LESEPROBE „CATCH ME, COWBOY! -Lasso ums Herz"
Am Ziel
„Wir sind da, Mister.“ Der Taxifahrer, sofern man das in dem Kaff am Arsch der Welt überhaupt so nennt, bringt den Wagen im Staub vor der großen Holzveranda zum Stehen. Abwartend dreht er sich zu mir um. Ich sehe ihm an, dass tausend Fragen auf seiner Zunge brennen. Allen voran vermutlich, was ein Greenhorn wie ich auf dieser Ranch verloren hat. Ihn ignorierend krame ich umständlich meine Geldbörse aus der Hosentasche. Gar nicht so leicht, wenn die Finger zittern. Wie einfach war das Leben mit einer Handtasche.
Das leiser werdende Brummen des Motors im Ohr stehe ich unschlüssig neben der Reisetasche vor dem Haus. Ich bin so lange nicht hier gewesen. Unzählige Erinnerungen an die Sommer meiner Kindheit durchbrechen die leise Panik, die mich im Griff hält, seit ich in Greybull nach über vierundzwanzig Stunden Fahrt aus dem Bus gestiegen bin. Um meine Spuren zu verwischen, hatte ich mich gegen einen Flug entschieden und stattdessen den Bus quer durchs Land genommen. Als ich in dem kleinen Nest endlich einen Fahrer gefunden hatte, konnte ich die letzte Etappe der Reise in Angriff nehmen. Seit wir das Örtchen Shell passiert haben und in die staubige Zufahrtsstraße zur Ranch eingebogen sind, ist meine Kehle wie zugeschnürt. Gestern früh, bei der Abfahrt in Atlanta, schien der Plan die Lösung zu sein. Jetzt bin ich mir alles andere als sicher. Ob sie mich überhaupt haben will? Ich schlucke trocken und wechsle unruhig von einem Fuß auf den anderen. Für Mai ist es sehr warm. Der Schweiß rinnt zwischen meinen Brüsten hinunter, die ich zusätzlich mit einer Bandage zusammengebunden habe. Ich schätze, es sind an die 85° Fahrenheit. Das wird Tante Emily, die jedes Salatblatt in ihrem Gemüsegarten liebt, nicht gefallen. Verrückt, dass ich daran denke, wie sie mich mit der Gießkanne nach draußen gescheucht hat, wenn es nicht regnete. Bei der Erinnerung puste ich instinktiv eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bis mir auffällt, dass dort keine Strähne mehr ist. Der Schmerz über den Verlust meiner langen Mähne fällt mich hinterrücks an. Stehen die abgeschnittenen Haare doch für alles, was ich die letzten drei Monate hinter mir lassen musste. Ich blinzle die aufkommenden Tränen weg und fixiere einen Punkt vor mir. Nicht aufgeben. So kurz vor dem rettenden Hafen! Die Spitzen meiner groben Stiefel sind mit rötlichem Staub bepudert, der auch einen Teil der Stufen bedeckt. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich mich als bezopftes Mädchen auf ebenjenen Stufen sitzen und mit dem Zeigefinger Muster in die Staubschicht zeichnen. Ein Nachhall der unbeschwerten Phase meines Lebens. Es scheint, als wäre hier die Zeit stehengeblieben. Emilys blauer Dodge Pick-up steht vor dem Scheunentor, ein paar Stuten grasen auf den Wiesen hinter dem Haupthaus. Fast meine ich, der alte Jock würde gleich um die Ecke kommen und mir durch die Locken wuscheln. Wie gern würde ich die Zeit zurückdrehen und niemals hier fortgehen. Mir fällt auf, dass ich überhaupt nicht weiß, ob Jock noch auf der Ranch ist.
Ein eindringlicher Schrei von hoch oben lässt mich zusammenzucken. Ich hebe die Hand und suche, die Augen vor der Sonne abschirmend, den Steinadler, von dem der Laut stammt. Ich entdecke ihn als Punkt vor der schroffen Kulisse der Bighorn Mountains. Das tafelartig abgeschliffene Gebirge säumt den Talkessel, in dem die Ranch liegt. Wie anders hier alles ist als in der City von San Francisco oder den quirligen Marktplätzen der Toskana. So klar und einsam. Aber ist es nicht genau das, was ich gesucht habe? Ich reiße mich zusammen. Wenn ich es nicht endlich hinter mich bringe, stehe ich nach Sonnenuntergang noch hier draußen.
Gerade, als ich die Tasche anhebe und die erste Stufe betrete, öffnet sich die weiße Holztür. Ich erstarre in meiner Bewegung. Emily! Meine Tante sieht bis auf silbrige Strähnen, die ihr Haar durchsetzen, noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Trotz ihrer fünfzig Jahre wirkt sie jung und dynamisch.
„Lass dir nicht wieder dieses billige Saatgut aus China andrehen, Luke. Der alte Parker meint wohl, weil ich dich schicke, kann er mich übers Ohr …“ Emily bemerkt mich und stoppt in der Mitte des Satzes. Neben ihr steht ein schlaksiger junger Mann mit braunen Teddyaugen. Er dreht unruhig seinen Hut in den Händen und mustert mich neugierig. Instinktiv senke ich den Kopf und ziehe den Cowboyhut, den ich mir am Busbahnhof im Souvenirshop gekauft habe, tief in die Stirn. Zu lange habe ich es vermieden, Aufmerksamkeit zu erregen. Emilys Blick streift meine Tasche, und sie zieht entschuldigend die Schultern hoch.
„Das tut mir leid. Unsere Gästezimmer werden zurzeit renoviert. Es gibt eine Übernachtungsmöglichkeit in Shell. Oder Sie fahren direkt zur Lodge im Nationalpark.“
Ich murmle etwas vor mich hin und wage nicht, den Blick zu heben.
„Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht verstanden. Sagten Sie, Sie seien kein Tourist?“
Ich sollte mich freuen, dass sie mich nicht auf den ersten Blick erkennt. Aber den kränkenden Stich im Herzen kann ich nicht verleugnen. Verdammt! Wieso hatte ich mir das einfach vorgestellt? Mutig hebe ich den Blick und schaue in die Augen meiner Tante.
Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, verharrt aber in der Position. Ich sehe das Wiedererkennen und die Freude in ihren Augen aufblitzen. „Jessi…?“
„Genau, Jesse“, unterbreche ich sie, bevor sie meinen Namen sagt. Meine Augen huschen zu dem Mann neben ihr, der mich von unten bis oben mustert. Ich hebe die Augenbrauen und werfe Emily einen, wie ich hoffe, warnenden Blick zu. Sie sieht aus, als wolle sie sich auf mich stürzen und in die Arme ziehen. Shit! Räuspernd sage ich in der tiefen Tonlage, die ich gestern früh so lange geprobt habe, bis ich zufrieden mit ihr war: „Lange nicht gesehen, Tante Emily. Ich hoffe, du hast noch ein Bett frei für deinen Neffen?“ Automatisch stelle ich mich breiter hin und straffe die Schultern. Zwei Dinge, die ich vor dem Spiegel geübt habe, um mich männlicher wirken zu lassen. Emily, die bereits die Stufen der Veranda auf mich zugelaufen kommt, hält inne. Verwirrt öffnet sie den Mund. „Neffe?“, fragt sie tonlos.
Innerlich seufzend stelle ich fest, dass Emily entweder an Scharfsinn eingebüßt hat, oder aber an Coolness. Denn die Situation scheint sie kurzzeitig zu überfordern.
„Ja. Meine Mutter, deine jüngere Schwester Anne, lässt dich grüßen.“ Herrje. Auffälliger kann es kaum sein. Im Augenwinkel sehe ich, wie Luke Emily sorgenvoll anschaut. So hat er sie wohl noch nie erlebt.
„Jüngere Schwester …?“ Emily kneift die Augen zusammen, während es hinter ihrer Stirn offensichtlich rattert.
Pferdewiehern weht zu uns herüber, und ein weiterer Tropfen Schweiß löst sich unter der Bandage. Ich nicke Luke zu, der mir grüßend die Hand hinhält. Sie zu drücken, wage ich nicht. Noch fehlen mir die Schwielen an den Fingern, um glaubhaft zu wirken. Ich umfasse den Henkel meiner Reisetasche ein wenig fester.
„Ja … Anne hat doch mit dir telefoniert. Ich soll auf der Ranch aushelfen. Drüben in Idaho war kein Platz mehr für mich, seit sie den neuen Mann hat.“ Erleichtert nehme ich wahr, wie ein amüsiertes Funkeln in Emilys Augen tritt.
Dann schlägt sie sich spielerisch die Hand vor die Stirn. „Ja, richtig! Wie konnte ich das vergessen? Dabei habe ich gestern noch mit Anne gesprochen. Sie hat mir gesagt, ich soll dich ordentlich rannehmen. Dein Stiefvater Jack hat dich wohl als faulen Nichtsnutz vom Hof gejagt.“
Nun ist es an mir, verblüfft zu sein. Jack? Tante Emily hat offensichtlich Spaß an der Scharade und lebt ihre blühende Fantasie aus.
Luke schaut mich mitleidig an. Er hat, wie es scheint, leidvolle Erfahrung damit, der Bursche von Tante Emily zu sein. Im nächsten Moment zuckt er zusammen.
„Was stehst du hier noch rum, Luke? Du könntest schon längst in Parkers Laden sein.“
Es fehlt nur, dass Emily ihm leicht auf den Hinterkopf schlägt. Aber das ist nicht nötig, denn Luke springt in Windeseile zu Emilys Pick-up und brettert davon, eine Staubwolke hinter sich herziehend. Als ich den Blick wieder auf Emily richte, grinst diese mich bis über beide Ohren an. Ihr Lächeln ist ansteckend, und am liebsten würde ich mich in ihre Arme werfen. Einen Moment die Last der Welt vergessen, die auf meine Schultern drückt und wieder das kleine Mädchen sein, für das Tante Emily Applepie backt und Pflaster auf wunde Knie klebt. Aber das wage ich nicht. Wer weiß, ob uns jemand beobachtet.
„Kann ich reinkommen?“
Emily tritt einen Schritt beiseite und macht eine Geste ins Haus. „Hinein in die gute Stube, lieber Neffe.“
Kaum ist die Tür hinter uns geschlossen, zieht sie mich in eine Umarmung, die mir die Luft abschnürt. Die Reisetasche fällt mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden. Der Hut rutscht in meinen Nacken. Ich vergrabe die Nasenspitze in Emilys Hals und schlucke hektisch, um die Tränen, die unweigerlich aufsteigen, im Zaum zu halten.
Nach einer Weile lösen wir uns voneinander, und ich versinke im warmen, sorgenvollen Blick meiner Tante. Sie mustert missbilligend die kurzen Haarfransen über meiner Stirn. „Jessica …“, ihre Stimme klingt belegt „Ich dachte … ich dachte, dir wäre etwas passiert.“
Schuldbewusst beiße ich mir auf die Lippe. Seit dem Telefonat habe ich mich nicht mehr bei ihr gemeldet. Und das war vor drei Monaten. Was soll ich sagen? Mir bleibt nur, stumm zu nicken und die Schultern hochzuziehen. „Es war sicherer so. Für dich und für mich. Glaub mir!“
Emily seufzt. „Das habe ich mir gedacht. Trotzdem bin ich vor Sorge fast gestorben. Irgendwie habe ich gewusst, du würdest früher oder später zu mir kommen. Aber nach drei Monaten hatte ich die Hoffnung beinahe aufgegeben.“
Ich nicke stumm. „Ich wollte erst sichergehen, dass es hier sicher ist. Sonst wäre ich früher gekommen. Es tut mir leid.“ Sie stößt hörbar die Luft aus. Dann nimmt sie die Tasche und bedeutet mir, ihr zu folgen.
„Komm erst einmal an, und später reden wir. Du kannst in deinem alten Zimmer schlafen.“
Ich folge Emily die ausgetretenen Holzstufen hoch in den ersten Stock. Hier hat sich wenig verändert. Die fünfte Stufe knarzt immer noch wie früher. Das vertraute Geräusch schafft es fast, die sorgsam unterdrückten Tränen zu lösen. Ich reiße mich zusammen. Emily macht sich genug Sorgen. Es macht es nicht besser, wenn ich flenne.
Sie öffnet die Tür, und ich betrete zögernd den kleinen Raum unter dem Dach. Auch hier drin ist alles wie früher. Die Tapete mit dem Muster aus winzig kleinen Blumen, der Holzschrank, das schmale Bauernbett unter der Dachschräge und die antike Waschstation, bestehend aus Schüssel und Karaffe wirken so, als hätten sie nur auf meine Rückkehr gewartet. Ich räuspere mich, um meinen Hals von dem dicken Kloß zu befreien, der dort seit meiner Ankunft hockt.
Emily deutet mit dem Kinn zur Waschschüssel. „Das ist nur Deko. Wenn du dich frisch machen willst, kannst du das Bad am Ende des Flurs nutzen. Handtücher findest du im Schrank. Ich setze Kaffee auf und warte in der Küche auf dich.“ Das Schmunzeln ist aus ihrem Blick verschwunden.
Ich nicke. Als sie die Tür hinter mir zuzieht und mich allein lässt, bröckelt die mühsam zusammengehaltene Fassade. Das hier ist der Ort, nach dem ich mich so lange gesehnt habe. Die Tränen wegschniefend, werfe ich meine Reisetasche aufs Bett. Mit zitternden Fingern entnehme ich ihr das Päckchen, das ich aus zwei Sweatern gerollt habe, die ich mir gestern in Atlanta bei Walmart gekauft habe. Meine Kleider habe ich in dem Motel neben der Busstation im Badezimmermüll versenkt. Zusammen mit den abgeschnittenen Haarsträhnen. Was wohl das Zimmermädchen am anderen Morgen gedacht hat? Ich lausche ins Haus, und als ich sicher bin, ungestört zu sein, entrolle ich vorsichtig die Sweater. Mit einem dumpfen Laut fällt der handliche Revolver aufs Bett. Die Waffe wirkt auf dem geblümten Bettüberwurf noch fremder als ohnehin in meinem Leben. Ich war immer gegen Schusswaffen. Es widerstrebte meinem ganzen Sein, gestern in diesen Laden zu gehen, den gefälschten Waffenschein vorzulegen und mir die Bandbreite der geeigneten Handwaffen für Frauen zeigen zu lassen. Beim Probeschießen in einem Tunnel, der zum Laden gehörte, hat meine Hand so sehr gezittert, dass mich der Besitzer nachsichtig angelächelt hat. Fünfhundert Dollar ärmer, das schicke Kästchen mit der Smith & Wesson Airweight, passender Munition und einem Flyer der „Women’s Shooting League“ in einer weißen Plastiktüte habe ich das Geschäft verlassen. In diesem Moment ist mir klar geworden, nichts würde mehr so sein wie zuvor. Als ob es das nicht schon seit drei Monaten war. Doch der Waffenkauf und die Entscheidung, mich als Mann auszugeben, hat meiner Flucht eine andere Dimension gegeben.
Es ist nur ein Gegenstand!, rede ich mir ein. Ein Gegenstand, der mir eine Heidenangst macht. Wie einen toten Fisch hebe ich die Waffe mit zwei Fingern hoch und sehe mich im Raum nach einem geeigneten Versteck um. Gerade, als ich die Matratze anhebe, um den Revolver darunterzuschieben, höre ich ein Rufen von draußen.
„Smith, hierher!“ Ein langes Pfeifen folgt.
Ertappt lasse ich die Smith & Wesson fallen. Woher …? Ein Hund bellt. Mein Herz rast und beruhigt sich nur langsam. Es handelt sich bei „Smith“ um einen Hund, und die Übereinstimmung mit der Revolvermarke ist rein zufällig. Oder nicht? Ich stopfe die Waffe unter die Matratze und spähe vorsichtig aus dem Fenster. Auf dem Hof sehe ich den schwarz-weißen Hund. So genau kenne ich mich mit Hunderassen nicht aus, aber ich glaube, es ist ein Border Collie. Er läuft mit einem Stock im Maul schwanzwedelnd auf einen Mann zu, von dem ich aus meiner Perspektive nur einen Cowboyhut auf einem Körper sehe. Der Mann geht in die Hocke, krault den Hund hinter den Ohren und zieht an dem Stock, den der Hund nicht preisgibt. Sowohl der Hund als auch der Mann haben offensichtlich Spaß an dem eingespielten Kräftemessen. Das Bild hat etwas Beruhigendes. Ich hole tief Luft und entspanne mich. Reiner Zufall.
Unvermittelt hebt der Mann den Kopf und schaut direkt zu meinem Fenster. O Gott, bitte nicht! Nicht hier! Mit einem erstickten Schrei stolpere ich zurück und stoße gegen die Waschschüssel. In letzter Sekunde kann ich verhindern, dass sie mit Getöse zu Boden fällt. Keuchend, als wäre ich einen Marathon gelaufen, lasse ich mich aufs Bett sinken und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Die Gedanken rasen. Wer ist dieser Mann? Was tut er hier? Warum hat er hochgeschaut? Er konnte doch gar nicht wissen, dass in diesem Zimmer jemand ist.
Nur mühsam beruhige ich mich. Ich muss diese Paranoia ablegen! Es war reiner Zufall. Niemand weiß, dass ich hier bin.
Nach einer heißen Dusche geht es mir besser. Die kurzen Haare haben den Vorteil, dass ich schneller fertig bin. Mit dem Handtuch den beschlagenen Spiegel freiwischend, betrachte ich mein ungewohntes Abbild im Spiegel. Die ungeschminkten Augen wirken müde. Ich beiße auf die blassen Lippen und sehne mich nach meinem Lieblingslippenstift. „Was soll’s?“, murmle ich, streiche mir über das weite Holzfällerhemd und übe mich noch einen Moment in männlicher Mimik. Dann beschließe ich, Emily zu erlösen.
Jesse
„Iss, ich habe dir ein Sandwich gemacht. Du bist zu dünn.“
Ich schnaube. Dieser Spruch stammt wahrscheinlich aus dem Textbuch für fürsorgliche Tanten.
„Zu dünn? Das einzig Gute an Italien war, dass ich mich mit Pizza, Pasta und Gelato trösten konnte. Das Hüftgold bekomme ich schwer wieder los.“
Emily zieht die Brauen hoch und schiebt den Teller in meine Richtung. Keine Widerrede!, signalisiert sie mir. Ich starre auf das riesige Brot mit mehreren Lagen Käse und Schinken, aus dessen Innerem Mayonnaise tropft. Okay, ich gebe es zu: Seit Tagen habe ich nicht anständig gegessen. Mein Magen ist wie zugeschnürt. Emily hat recht. Ich brauche Kraft. Ich zwinge mich, eine Ecke abzubeißen, und schlucke sie nach kurzem Kauen mühsam hinunter.
„Wie geht es Anne? Ist sie glücklich mit Jack?“ Emilys ernster Blick steht im krassen Widerspruch zu ihrem Witz. Wir wissen beide, dass Emily keine Schwester hat, die Anne heißt. Ich nehme einen Schluck Kaffee und weiche ihrer Musterung aus. Mhm!
„Dein Kaffee ist immer noch der beste, Emily.“
Sie schnaubt ungeduldig. „Komm endlich zur Sache, Jessica.“ Sie hält inne. „Ich sollte mir Jesse angewöhnen.“
Ich seufze. Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. „Emily … wie du dir denken kannst, bin ich immer noch auf der Flucht und muss bei dir untertauchen.“
Meine Tante zieht hörbar die Luft ein. „Ich hatte die Hoffnung, dass du inzwischen etwas rausgefunden hast und deshalb hier bist. Dass du dich nicht mehr verstecken musst. Aber dann wäre deine Verkleidung wohl überflüssig.“
Ich lache trocken. „Das wäre schön. Nein, die Situation ist unverändert.“
Ein Schatten huscht über Emilys Züge. Mein Vater und Emily sind sich seit Jahren aus dem Weg gegangen. Für meinen Vater war Emily die Bäuerin, die trotz hoher Intelligenz nichts aus ihrem Leben macht. Die auf der Ranch versauert, die schon seit Langem in Familienbesitz ist. Für Emily war mein Vater der konservative Stadt-Schnösel, der anstatt auf einer wunderbaren Ranch zu leben, Unschuldigen das Geld aus der Tasche zieht und damit jegliche Ideale seiner Jugend verriet. Der Bruch geschah etwa in meinem vierzehnten Lebensjahr. Seitdem hat er versucht, mir die Urlaube auf Emilys Ranch auszureden. Nicht offensichtlich. Doch jedes Mal, wenn ich ihn bedrängt habe, den Sommer im Paradies meiner Kindheit in Wyoming zu verbringen, hat er mich mit einer tollen Reise gelockt. So habe ich in den darauffolgenden Jahren die ganze Welt bereist. Die Besuche bei meiner Tante wurden immer seltener. Als ich vor sechs Jahren in die Kanzlei meines Vaters eingetreten bin, habe ich die Besuche bei ihr ganz eingestellt. Es ist mir nicht einmal aufgefallen. In der ganzen Zeit haben mein Vater und seine Schwester nicht ein Wort miteinander gewechselt.
Ich sehe Emily an, dass sein plötzlicher Tod vor drei Monaten sie tief trauern lässt. Vermutlich ging sie davon aus, irgendwann würde sich alles einrenken. Nur, dass diese Chance jetzt für immer vertan ist.
„Emily, es tut mir leid, dass ich dich jahrelang nicht besucht habe. Ich schätze, ich wollte nicht zwischen die Fronten geraten.“
Emily winkt ab. „Das verstehe ich doch. Was mich nicht davon abgehalten hat, dich zu vermissen. Du weißt schon, dass ich mir nach deinem Anruf nach Walters Tod fürchterliche Sorgen gemacht habe. Ich hatte früher mit dir gerechnet. Was denkst du dir dabei? Alle Welt hat dich gesucht, Jesse.“
Alarmiert blicke ich hoch. „War jemand hier?“
Sie nickt. „Zwei Mal. Das erste Mal, als ich gerade von der Beerdigung wieder zurück war. Ein junger Mann. Er hat behauptet, er wäre dein Freund …“
Ich unterbreche sie. „O Gott, George“, sage ich händeringend. „Dunkelhaarig, groß, Grübchen im Kinn?“, frage ich.
Emily nickt. „Ja, mit George hat er sich vorgestellt. Er wirkte sehr besorgt und machte zunächst einen seriösen Eindruck auf mich. Aber als ich ihm nicht weiterhelfen konnte, wurde er ungehalten. Er hat gewütet, bis ich ihn rausgeworfen habe.“
Ich höre Emily kaum zu. Es war klar, dass George mich sucht. Bittere Galle steigt in mir auf, als ich an seinen Verrat denke. In den vergangenen Monaten habe ich jede Sekunde, jede Nuance der zweijährigen Beziehung mit George analysiert. Am Ende konnte ich nicht begreifen, wie ich mich je mit diesem Mann verbunden gefühlt habe. Habe ich das je? Es hätte mir auffallen sollen, dass ich George nie von meinen wunderbaren Sommern bei Emily erzählt habe. Er wusste zwar, dass ich eine Tante auf einer Ranch in Wyoming habe, aber mehr auch nicht. Das, was Emily als „seriös“ bezeichnet, hat mir an ihm gefallen. Er strahlte immer absolute Sicherheit aus. Dieses Gefühl vermisse ich heute mehr denn je. Aber ich weiß, dass er der Letzte ist, der es mir geben wird. Ich seufze. Alles Grübeln führt zu nichts. Das ist mir in Half Moon Bay am Todestag meines Vaters klar geworden. George ist gefährlich. Er ist ein Feind. Aber das kann er gut verschleiern. Zum Glück ist Emily nichts passiert.
„Und beim zweiten Mal? Wer ist da gekommen?“
„Das war vor etwa einem Monat. Ein älterer Herr mit silbernen Schläfen. Er sagte, du seist eine seiner Junior-Partnerinnen, und er mache sich Sorgen.“
Meine Nackenhaare stellen sich auf. Wenn Jeff Fuller, der Gründungspartner und Freund meines Vaters, hier persönlich auftaucht, bestätigt sich die Vermutung, wie komplex die Sache ist. Ob er sich Sorgen um mich macht? Oder steckt er in der Sache mit drin? Ich streiche mit den feuchten Handflächen über die grobe Jeans. Vielleicht sollte ich lieber weiterziehen?
„Und, was hast du ihm erzählt?“
Sie legt den Kopf schief. „Na, die Wahrheit natürlich. Dass ich nicht weiß, wo du bist. Dass ich mir ebenfalls Sorgen mache, dass wir jedoch seit Jahren keinen Kontakt mehr haben.“
Ich nicke. „Das hast du gut gemacht!“
Sie schnaubt. „Wenn du mich endlich aufklären könntest, was vor sich geht…“
Ich seufze und lege meine Hände breit gespreizt auf den Holztisch. Ich starre sie an, als könne ich aus ihnen lesen. „Die vergangenen zwei Jahre habe ich in der Kanzlei die Pro-bono-Fälle übernommen. Du weißt, das sind die Fälle von Straftätern, die sich keine teure anwaltliche Verteidigung leisten können.“
Emily nickt.
„Ich war schlecht. Zumindest dachte ich das, weil meine Erfolgsquote miserabel war.“ Ich schnaube bei der Erinnerung. Wie habe ich mir deswegen den Kopf zermartert. „Die Kanzlei hatte eine Investigatorin. Sie hat wichtige Informationen über unsere Mandanten oder andere Verdächtige besorgt, um Vorteile vor Gericht zu haben.“
Emily nickt. „Ja, das kenne ich aus Anwaltsserien.“
„Renée war die Investigatorin bei Morgan, Fuller & Partner. Wir haben eng zusammengearbeitet, und ich denke, sie war die einzige Freundin, die ich in der Kanzlei hatte. Sie war wahnsinnig hübsch und ein einziges Energiebündel. Du hättest sie gemocht.“
„Du sprichst von ihr in der Vergangenheit?“
Ich schlucke. „Sie ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Ich befürchte, sie … lebt nicht mehr.“ Meine Stimme bricht, als ich es zum ersten Mal offen ausspreche. Renée! Gott, ich vermisse dich so. Erinnerungen an intensive Gespräche nach der Arbeit überkommen mich. Sie mochte George von Anfang an nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber ich wollte die Freundschaft zu ihr nicht aufgeben, auch wenn George mir damit in den Ohren lag.
Emily schaut mich traurig an.
„Sie hat etwas angedeutet, kurz bevor sie verschwand.“ Ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen:
Vier Monate zuvor:
Wieder einer dieser frustrierenden Fälle, denke ich, als ich den Aktendeckel aufklappe. Das übliche Los eines intelligenten Jungen, der leider im falschen Land geboren wurde und mit Träumen ins gelobte Land kam. Dort aber das Pech hatte, in einem unterprivilegierten Stadtteil zu landen. Auch wenn einige Indizien gegen ihn sprechen, für die Tatzeit hat er ein wasserdichtes Alibi. Im Grunde kann keine Verurteilung erfolgen, solange der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ gilt. Aber genau das habe ich in den letzten Wochen ein paarmal gedacht und vor Gericht verloren. Ich schlage nach, welcher Richter den Vorsitz hat. Camden. Ein vollkommen empathieloser Mann, der kurz vor der Pensionierung steht und es sich zum Ziel gesetzt hat, jegliches „Unkraut“ im Staat auszumerzen. Mit Unkraut meint er vor allem illegale Einwanderer. Er ist damit ganz auf der Linie des Präsidenten. Das gilt auch im liberalen Kalifornien. Stöhnend reibe ich mir übers Kinn. Bei diesem Richter bin ich in den vergangenen Monaten jedes Mal gescheitert. Auch in Fällen, in denen die Beweislage zu unseren Gunsten war. Frustriert schiebe ich die Akte von mir. Wie soll ich das dem Mandanten und seiner Familie nur beibringen? Seufzend erhebe ich mich, um mir den gefühlt zwanzigsten Kaffee an diesem Tag zu holen. Vielleicht sollte ich einmal um den Block laufen. Renée steckt den Kopf zur Tür rein.
„Hey, du kommst gerade richtig. Lust auf eine Auszeit und einen Blaubeermuffin bei Starbucks?“, frage ich sie und runzle die Stirn, als ich ihren Gesichtsausdruck sehe. Ernst. Sie blickt über ihre Schulter, als wolle sie sich vergewissern, unter vier Augen mit mir sprechen zu können, und schließt die Tür. Was ungewöhnlich ist, da die Türen der Associates und Junior-Partner normalerweise weit offen stehen. Ich vermute, um die Arbeitsmoral zu stärken und vom Tagträumen abzuhalten.
„Hast du einen Moment Zeit?“
„Selbstverständlich. Setz dich.“
Renée schüttelt den Kopf. „Ich stehe lieber.“ Sie vergräbt die Schneidezähne in der Unterlippe und streicht sich fahrig über ihren extrem kurzen Pixie. In dem eleganten Kostüm sieht sie eher aus wie eine der dunkelhäutigen Anwältinnen als eine Ermittlerin. Ihre Nervosität wäre mir nicht aufgefallen, wenn sie nicht sonst die Coolness in Person wäre.
„Schieß los, was hast du auf dem Herzen?“
Wortlos legt sie mir eine Mappe auf den Schreibtisch, die ich stirnrunzelnd öffne.
„Das ist eine Auflistung der Strafrechtsfälle der Kanzlei aus den letzten fünf Jahren“, sagt sie und deutet auf den Ausdruck einer Excel-Tabelle in der Mappe. „Deine Pro-bono-Fälle sind grau hinterlegt. Sieh dir das mal an.“
Ich denke, ich höre nicht richtig und ziehe erstaunt die Brauen hoch. „Super, fällst du mir jetzt auch in den Rücken? Ich weiß, dass meine Erfolgsquote die schlechteste in der Kanzlei ist.“
Sie verzieht den Mund. Ein Lächeln ist das nicht. „Das meine ich nicht, Jessica.“
„Renée, was meinst du dann? Was ist hier los?
„Ich meine, du wärst woanders besser aufgehoben.“
„Du weißt, dass ich nicht woanders arbeiten werde. Mein Vater ist einer der Gründer. Als seine Tochter bin ich praktisch verpflichtet, hierzubleiben.“
Sie seufzt. „Die Entscheidung musst du selbst treffen.“
„Ja, genau. Ich fühle mich auch verantwortlich gegenüber unseren Associates. Ich bin die jüngste Junior-Partnerin hier und arbeite härter als alle anderen. Ich bin diesen Leuten verpflichtet. Eben weil ich die Tochter eines Partners bin.“
„Ich bin raus. Leb wohl, Jessica.“ Sie dreht sich so abrupt um, dass sie schon bei der Tür ist, als der Sinn ihrer Worte meinen Verstand erreicht.
Ich springe auf. „Leb wohl? Das klingt so endgültig. Was ist denn los, Renée?“ Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu. Ich verstehe diese plötzliche Wendung nicht. Gestern bei unserem After-Work Drink war alles noch … normal.
Renée verschränkt die Arme vor der Brust. Ich sehe ihr an, dass sie mit den Emotionen kämpft.
„Ich kann hier nicht darüber reden. Heute Abend, Chapman Bar. Sei pünktlich“, flüstert sie.
Ich nicke stirnrunzelnd. „Okay. Ich werde kommen.“ Warum will sie sich nicht in unserer Stammbar treffen, die um die Ecke der Kanzlei liegt? Zu perplex von dem geheimniskrämerischen Verhalten sehe ich ihr nach, wie sie mit einem letzten zaghaften Lächeln über ihre Schulter den Raum verlässt.
Shane
Ihr Lächeln aus meiner Erinnerung verblasst, und meine Augen fokussieren wieder Emilys Küchentisch. Ein leiser Kopfschmerz meldet sich zwischen meinen Augen. „Renée ist an jenem Abend nicht gekommen. Während ich gewartet habe, bekam ich eine kurze Textnachricht. ‚Kann nicht kommen. Sorry R.’ Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen. Sie antwortet nicht auf Anrufe oder Nachrichten. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.“
Emily legt tröstend ihre Hand auf meine trotz der Sommerwärme eiskalten Finger. „Hast du etwas mit dieser Liste anfangen können, die sie dir gegeben hat?“
Ich stoße die Luft aus. „Mir ist aufgefallen, dass die Kanzlei eine hohe Freispruchquote hat. Bis auf meine Pro-bono-Fälle. Aber das war mir schon davor bekannt. Ich habe mich das Wochenende darauf mit Dad in seinem Haus in Half Moon Bay verabredet, um ihn zu fragen, was er davon hält oder ob er näheres darüber weiß. Aber als ich dort ankam, war es bereits zu spät.“
Wir schweigen einen Moment betreten.
„Du meinst, diese Liste und sein Tod hängen zusammen?“
Ich kneife mir in die Nasenwurzel, doch es bringt wenig Erleichterung. „Im Grunde sind alles nur Vermutungen, die ich mir aus Bruchstücken zusammengereimt habe. Es muss sich um illegale Verflechtungen zwischen Richtern, Anwälten und wahrscheinlich auch der Polizei handeln. Unsaubere Geschäfte, bei denen eine Menge Geld im Spiel ist. Ich weiß nichts Genaues. Ich weiß nur, was immer es auch zu bedeuten hat, war es wert, Dad zu töten. Und wahrscheinlich auch Renée.“
Emily nickt automatisch.
Ich seufze. „Es ist gefährlich. Gerade deswegen muss ich wissen, ob ich bleiben darf. Ich kann dir nicht garantieren, dass mich hier keiner mehr sucht. Und dann wärst auch du in Gefahr.“
Jetzt verdreht sie die Augen und schmunzelt. „Hört sich an wie in einem Kriminalroman.“
„Ja, wie in einem Krimi.“ Ich bringe doch tatsächlich ein echtes Lächeln zustande. Dass mein Gesicht überhaupt noch weiß, wie das geht. Ich sehe ihr an, wie weitere tausend Fragen hinter ihrer Stirn brennen. Aber sie gibt ihnen nicht nach. Coole Emily! Ich wusste, ich kann mich auf sie verlassen.
„Ich hatte nach deinem Anruf gehofft, dich doch auf der Beerdigung zu sehen. Ich musste alles von Ferne organisieren, und neben mir warst du die einzige Familie, die er hatte“, sagt sie.
Ich schlucke. „Ich war dort“, murmele ich in meine Tasse.
Sie schaut verwirrt.
„Ich habe mich versteckt und Fotos gemacht. Seither hoffe ich, damit eine Spur zu finden, die mir aus diesem Chaos hilft, zu dem mein Leben geworden ist.“ Ich seufze. „Ich stecke immer noch fest. Ich komme in diesem Puzzle kein Stück weiter.“
Emily lächelt mich an, und es ist, als würde die Sonne aufgehen. „Selbstverständlich kannst du bleiben. Du bist doch meine Lieblingsnichte … Pardon, mein Lieblingsneffe. Ich habe keine Angst. Und wenn dir jemand etwas antun möchte, muss er erst an mir vorbei!“ Wie zur Unterstreichung ihrer Worte steht sie auf und verschränkt die Arme vor der Brust. Dann legt sie nachdenklich den Kopf schief. „Aber, solltest du dir nicht einen anderen Namen ausdenken? Jesse klingt fast wie Jessica. Falls jemand nach dir fragen sollte, käme er dir schnell auf die Schliche.“
„Ich habe darüber nachgedacht. Aber ich hatte einmal einen Hochstapler als Klienten. Er hat mir erklärt, je näher man an der Wahrheit bleibt, wenn man in eine andere Rolle schlüpft, desto authentischer wirkt es. Und umso eher nimmt die Umwelt einem die Lüge ab. Dieser Tipp hat mir während meiner Flucht sehr geholfen.“
„Wow. Jesse also! Mir ist egal, wie du heißt. Ich liebe dich wie ein eigenes Kind und bin sehr froh, dass du da bist.“
Tränen brennen in meinen Augenwinkeln, und ich kann nicht mehr an mich halten. Der Stuhl scharrt über den Steinboden, als ich aufspringe und mich in ihre Arme werfe. Zum ersten Mal seit drei Monaten erlaube ich mir, schwach zu sein. Von dieser Frau habe ich nur Liebe erfahren. Sie ist die einzige Familie, die mir bleibt. Und ich ihre. Ich bin so unendlich erleichtert, dass sie mich trotz der Gefahr aufnimmt. Wir stehen eine Weile eng umschlungen in der Küche. Emilys kräftige Hände streichen beschwichtigend über meinen Rücken. Sie duftet vertraut nach Heu und Sonne. Ein Geruch, der zusammen mit ihren tröstend gemurmelten Worten den schlimmsten Heulanfall versiegen lässt. Sie bugsiert mich zurück auf meinen Stuhl, langt in eine Schublade und zieht ein Stofftaschentuch hervor. Die Dinger hatte ich schon fast vergessen. Als ich mich ordentlich geschnäuzt habe, schiebt sie eine frische Tasse Kaffee zu mir und nimmt mir gegenüber Platz. Mir ist millionenfach leichter ums Herz als noch vor zehn Minuten. Es ist, als nähme ich zum ersten Mal seit Wochen meine Umgebung wahr. Die abgenutzten Küchenschränke, der brummende, sicher dreißig Jahre alte Kühlschrank, die Tassen mit den verblichenen Blumenmustern und Emilys unzählige Lachfalten.
„Italien also. Bist du in den vergangenen drei Monaten dort gewesen?“, fragt mich Emily und gießt sich Kaffee nach, in den sie drei Löffel Zucker gibt.
„Ja, in einem kleinen Dorf in der Toskana.“
„Dort wollte ich immer mal hin. Ist es so schön, wie man sagt?“
Ich nicke und erzähle ihr von den schmalen Gassen und den Kirchen, den plappernden Italienern und den unzähligen Vespas. Sie seufzt verträumt, bis ich ihr von meinen Ängsten und meinem Verfolgungswahn berichte, die mir mehr und mehr die Freude an der italienischen Lebensart genommen hatten.
„Warum bist du nicht dortgeblieben?“
„Mein Bargeld ging zur Neige. Und die Italiener sind auch nicht das, was ich erwartet hatte. Ohne Arbeitserlaubnis sah es schlecht aus. Ich hatte es satt, passiv zu sein. Ich muss herausfinden, weshalb Dad sterben musste. Außerdem wollte ich nach Hause. Und das einzige Zuhause, das ich noch habe, bist du, Emily.“
Sie lächelt mich an, und an der Art, wie sie rasch am Kaffee nippt, sehe ich, wie sehr sie sich darüber freut.
„Ich bin froh, dass du hier bist.“
„Ich auch. Ich habe dich vermisst, Emily. Und ich vermisse Dad. Wie wahnsinnig. Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte, war ich einfach nur traurig. Und einsam. Es war schrecklich.“
„Jetzt bist du hier. Und die Familie hält zusammen.“ Sie lehnt sich zurück und mustert mich kritisch. „Meinst du, jemand nimmt dir auf Dauer ab, dass du ein Mann bist?“
Ich zucke mit den Schultern. „Es klappt, wenn du mich unterstützt. Deine Leute glauben dir. Dein Wort ist für sie Gesetz. Wenn du sagst, ich bin ein Mann, bin ich ein Mann. Du kannst ihnen erzählen, dass ich immer schmächtig war.“
Erleichtert nehme ich wahr, wie das amüsierte Funkeln wieder in ihre Augen tritt. „Kein Wunder, meine Schwester Anne hat dich nicht richtig gefüttert.“
Ich grinse und bin froh, dass die Stimmung locker geworden ist. Wann habe ich das letzte Mal entspannt Kaffee getrunken?
Auf dem Hof bellt ein Hund. Ich zucke zusammen und erschaudere bei der Erinnerung an die Szene am Fenster. „Du hast einen Hofhund?“, frage ich, während ich die Tasse in der Hand drehe.
„Nein, Smith gehört zu Shane.“
Ich hebe fragend die Brauen. „Wer ist Shane?“
Meine Tante kneift die Augen zusammen und grinst. „Ich denke, er wird dir gefallen. Er ist einer der Viehtreiber. Ein echter Cowboy.“
Ich verziehe das Gesicht. „Tante, die Zeiten, in denen ich auf dem Paddock saß und die Kerle mit den Hüten und Lassos angeschmachtet habe, sind vorbei.“
Emily legt den Kopf schief. Ihr Lächeln ist ungebrochen. „Was ist schlecht daran, gut gebaute Kerle anzuhimmeln?“
Der Ausdruck in meinen Augen lässt sie den Kopf in den Nacken legen und in schallendes Gelächter ausbrechen.
„Ich steh auf gut gebaute Kerle. Aber in meiner jetzigen Lage…“, ich deute auf die Haarstoppel, „wäre es leichtsinnig, hier mit Sternchen in den Augen rumzulaufen. Findest du nicht auch?“
Sie hat sich gefangen und zuckt wieder mit den Schultern. „Also, ich finde, das passt zu deiner neuen Rolle.“
Ich pruste los und sprühe den Kaffee in alle Richtungen.
Sie beugt sich verschwörerisch vor. „Aber dann solltest du dich vor Luke in Acht nehmen. Der steht auf zarte Kerle wie dich. Du hältst dich besser an Männer wie Shane.“
Ich bin es nicht gewohnt, mit einem Familienmitglied über solche Dinge zu reden.
„Shane ist eine Augenweide, da könnte sogar ich schwach werden. Die anderen Cowboys sind … weniger eindrücklich. Er ist seit knapp drei Monaten hier und leistet gute Arbeit.“
„Drei Monate, sagst du?“ Ich werde panisch. Seit meiner überstürzten Flucht vermute ich hinter jeder Veränderung etwas Gefährliches. Und das hat sich in Italien eher verschlimmert. Angst und Paranoia sind keine gute Kombination. „Woher kommt er und welche Referenzen hat er?“
„Er hat einen einwandfreien Lebenslauf und ist in Texas auf einer riesigen Rinderfarm aufgewachsen. Ein echter Glücksgriff für die Farm. Er arbeitet für zwei. Aber warum interessiert dich das so brennend?“
Ich versuche, mich zu beruhigen. „Na ja, … ach, lassen wir das. Ich fühle mich ständig verfolgt seit Dads Tod. Wahrscheinlich übertreibe ich.“
„Okay.“ Sie scheint zu spüren, dass ich einen Themenwechsel brauche. „Was ist mit George?“
Ich schnaube trocken. „Wir waren zwei Jahre zusammen. Aber ich kann ihm nicht mehr trauen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er für Dads Tod verantwortlich ist.“
„Wie kommst du darauf?“ Emily schaut mich mit blassem Gesicht an.
„Alles deutet auf ihn. Die große Frage ist, warum er das getan hat.“ Ich habe mir seit drei Monaten verboten, an George zu denken. Das letzte Mal sah ich ihn aus der Ferne am Grab meines Dads stehen. Er sah nervös aus, hat sich immer wieder umgeschaut, als erwarte er mich. Ruhig in meinem Versteck zu bleiben, ist mir bei seinem Anblick am schwersten gefallen. Der Zorn über seinen Verrat hat mich beinahe zerrissen. Auch jetzt verdränge ich besser dieses Bild von ihm. Jede Erinnerung an uns.
Ich kann niemandem mehr trauen. Außer meiner Tante. Bei ihr bin ich sicher. Das weiß ich. Und deswegen war es die einzige Konsequenz, meine einsame Flucht durch Europa nach drei Monaten abzubrechen und hierhinzukommen.
Emily mustert mich aufmerksam. „Wenn die ganze Sache vorbei ist, wirst du dein Glück finden, Jesse.“
Ich räuspere mich und fahre mit der Hand über die ungewohnt kurzen Haare in meinem Nacken. „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob die Sache jemals vorbeigeht“, flüstere ich.
Emily legt mitfühlend die Hand auf meinen Arm. „Aber du kannst dich nicht dein Leben lang verstecken, Jesse. Willst du etwa ewig als Mann leben?“
Verzweifelt blicke ich in ihre blauen gütigen Augen und zucke mit den Schultern. Ich habe keine Vorstellung, was die Zukunft für mich bringt.
Ich weiß nicht einmal, wie lange ich noch leben werde.
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