LESEPROBE „CATCH ME, COWBOY 2 !
Braut in Texas"
Señora
„Ich schaffe das. Für Manolo.“ Meine Finger zittern, als ich den messingfarbenen Klingelknopf drücke. Es fühlt sich an, als müsste ich mein eigenes Todesurteil vollstrecken. Schneller, als mir lieb ist, öffnet sich die Tür. Das Dienstmädchen, den Gesichtszügen nach wie ich unverkennbar mexikanischer Herkunft, zieht die Brauen hoch, als sie mich betrachtet. Ihr unbewegter Blick verweilt auf der hohen Taille des Bleistiftrocks und senkt sich weiter zu den flachen Ballerinas. Hätte ich lieber eine Hose anziehen sollen? Ich widerstehe dem Drang, zu überprüfen, ob auf meiner Bluse ein Kaffeefleck ist. Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Oberteil bei der Hitze unvorteilhaft an der Haut klebt. Kurzzeitig gerät mein Entschluss ins Wanken. Wenn schon die ersten Minuten in meiner Rolle das schaffen, sollte ich lieber abbrechen. Die Vorstellung, mich in den Mietwagen zu setzen und zu fliehen, ist verlockend. Der Moment verfliegt bei dem Gedanken an Manolo.
Ich ignoriere ihren Röntgenblick und umfasse den Henkel meiner Handtasche fester. „Valentina Montero para la Señora Barker.“ Vielleicht erweicht unsere gemeinsame Sprache ihre Miene?
Ihre Nase kräuselt sich. Missbilligend? „Haben Sie einen Termin?“, erwidert sie auf Amerikanisch.
Innerlich seufze ich. Dann eben nicht. „Ja.“ Die Frau weiß, weshalb ich hier bin. Trotz ihres Alters, ich schätze sie etwa gleichaltrig, also Ende zwanzig, liegt ein herber Zug um ihren Mund. O je. Ein weiteres Warnsignal, das ich zum Anlass nehmen sollte, auf der Stelle kehrtzumachen?
Sie tritt zur Seite und winkt mich ins Haus.
Dicke Auslegeware auf den Eichenholzdielen dämpfen meine Schritte, als ich ihr durch die eindrucksvolle Lobby folge. Es ist Jahre her, dass ich hier war. Ich erkenne kaum etwas wieder. Dabei hatte ich erwartet, dass mich das Grauen der letzten Nacht, die ich hier verbracht habe, einholt. Befürchtet, dass die Erinnerung daran, wie mein Cousin Manolo in Handschellen von der Polizei abgeführt wird, es mir unmöglich machen würde, die Tarnung aufrecht zu erhalten. Doch nichts. Ich bleibe ruhig. Vielleicht liegt es daran, dass alles fremd ist. Das wird mir helfen, Beweise für Manolos Unschuld zu finden.
Durch die Glastüren am gegenüberliegenden Ende des Raumes erspähe ich einen gepflegten Rasen und das blinkende Blau eines Swimmingpools. Wow! Die Barkerranch muss inzwischen Millionen wert sein. Diese Opulenz ist kein Vergleich zu dem heimeligen Haus, das ich in Erinnerung habe. In dessen Eingangshalle ein Regal mit staubigen Cowboystiefeln stand, über deren Lederreliefs ich als junges Mädchen ehrfurchtsvoll die Fingerspitzen streifen ließ. Stille hat das gesellige Gelächter verdrängt, das aus dem Esszimmer bis zu meinem Versteck unter der Treppe herüberwehte. Es war so ansteckend, dass ich mir die Hand vor den Mund halten musste, um nicht loszuprusten.
Wir treten durch die geöffnete Flügeltür in einen hohen, lichten Raum, eher ein Saal. Wo sind die Wände geblieben?
Das Dienstmädchen deutet auf einen Ohrensessel bei einem antiken Tischchen. Ich nehme Platz und stelle die Tasche neben die Beine. Ohne ein weiteres Wort verschwindet die junge Frau eine hölzerne, mit Schnitzereien verzierte Treppe hinauf. Mein Blick folgt ihrem steifen Gang, der nichts von der Lebensfreude offenbart, die meinen Landsleuten nachgesagt wird. Ich blinzle zweimal, bevor ich realisiere, dass die alte Treppe nicht mehr existiert. Bleierne Schwere legt sich in meine Magengrube und verdrängt das aufgeregte Kribbeln, das in mir wirbelt, seit ich den Plan gefasst habe, zurückzukehren. Ich streiche den Rock glatt und versuche, die Nervosität in den Griff zu bekommen. In Gedanken gehe ich die Rolle durch. Als ob ich nicht seit einer Woche jede Nuance meines gefälschten Lebenslaufs auswendig kann.
Ich nehme den hohen Raum in mich auf. Offensichtlich das neue Wohnzimmer der Ranch. Die obere Etage, in der sich früher die Schlafzimmer der Familie befanden, ist fort. Das erklärt den modernen Anbau im westlichen Teil, zu dem wohl die Treppe führt. Schwere, für meinen Geschmack zu konservative Sitzmöbel sind um den riesigen Steinkamin gruppiert. Wenigstens den gibt es noch. Obwohl ich mich früher selten in dem Zimmer aufgehalten habe, das überwiegend zum Rauchen und Whiskeytrinken genutzt wurde. Das scheint heute noch der Fall zu sein. Auf einem Rollwagen hinter den Sofas stehen Whiskeyflaschen unterschiedlicher Form und Größe. Passend zu den bauchigen Karaffen mehrere Kristalltumbler daneben. Auch hier einen Tick zu überladen. Auf dem Sims des Kamins erspähe ich ordentlich aufgereihte Familienfotos. Sie sind zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Ich wage es nicht, den Sessel zu verlassen. Bei meinem Glück erwischt mich die Hausherrin in dem Moment, in dem ich einen der Fotorahmen fallen lasse.
Ich schlage ein Bein über das andere. Nach einer Minute stelle ich die Füße wieder parallel hin. Ich kann mir nicht verkneifen, den Rock auf Flecken zu untersuchen. Wie erwartet sitzt alles perfekt. Wie lange dauert das denn? Ich linse auf die Armbanduhr, die mir Mamá zum fünfzehnten Geburtstag, meiner Quinceañera, geschenkt hat. Ich warte erst seit fünf Minuten, selbst wenn es mir länger vorkommt.
Ungeduldig inspiziere ich weiter den Raum, der von typisch amerikanischem Reichtum zeugt. Weiche Teppiche, mit Kissen überladene Sofas, überall steht unnützes Zeug: vergoldete Porzellanbären, Schalen mit Duft-Potpourris, üppige Seidenblumengestecke. Ein großformatiges Porträt über der Hausbar zeigt eine Südstaatenschönheit. Stilecht in weißem Rüschenkleid, mit Wespentaille und passendem Sonnenschirm. Ich unterdrücke ein Schnauben, als ich die weichgezeichneten Gesichtszüge der Frau studiere, die Tante Carmela als die Bruja, die Hexe, bezeichnet.
Es überrascht mich nicht, in einem Rahmen an der gegenüberliegenden Seite des Kamins die texanische Flagge zu entdecken. Der Lone Starleuchtet auf dem blauen Untergrund im gleißenden Sonnenlicht, das durch die hohen Terrassentüren hereinfällt.
Kein Vergleich zu dem kargen Apartment in Houston, in das ich nach der Trennung von Carlos überstürzt gezogen bin.
Ein Poltern lenkt mich ab. Es kommt aus der Ecke schräg hinter dem Sessel, in dem ich sitze. Ich entdecke eine Küche am Ende des großen Raumes. Das muss tatsächlich der Standort der alten Küche sein. Der Raum, in dem ich mit Tante Carmela und Onkel Arturo so viel Zeit verbracht habe. Heute dienen die Küchenmöbel reiner Dekoration. Die Innenarchitektin hat vermutlich Gemütlichkeit suggerieren wollen. Die echte Küche wird sich im Bauch des Hauses befinden. Bei dem Gedanken knurrt mein Magen. Vor Aufregung habe ich heute das Frühstück ausfallen lassen. Es poltert erneut, und hinter dem Küchentresen erhebt sich fluchend ein Mann. Vor Schreck pocht mein Herz wie wild. Die Situation scheint mehr an meinen Nerven zu zerren, als ich dachte. Der Mann muss die ganze Zeit dort gewesen sein. Wie gut, dass ich nicht herumspaziert bin. Er hat mich nicht entdeckt, sondern mustert missmutig die Dose Erdnüsse in seiner Hand. Ist das John Barker?,frage ich mich, als ich die Atmung wieder unter Kontrolle habe. Ich schätze ihn auf Anfang fünfzig. Er ist groß und für meinen Geschmack zu muskulös-massig. Wie die Sitzmöbel! Jetzt weiß ich sicher, dass es nicht John ist. Ich kenne den Mann unter Onkel Anthony. Damals habe ich nicht viel von ihm mitbekommen. Er spielte eine eher unbedeutende Rolle im Ranchbetrieb. Was mich ehrlich gesagt immer gewundert hat, da er der Zwillingsbruder von John, dem Rancheigner, ist. Meine Tante hat mir erklärt, das sei so, da er der Jüngere sei. Wie im Mittelalter, denke ich heute noch. Soweit ich mich entsinne, war er den letzten Sommer, den ich hier verbracht habe, fort.
Um mich bemerkbar zu machen, räuspere ich mich. Sein Kopf, auf dem ein weißer Cowboyhut sitzt, ruckt herum. Er kneift die Augen zusammen und lässt den Blick einmal meinen Körper hinauf- und hinabgleiten. Seinem Lächeln nach gefällt ihm, was er sieht. Schon bereue ich, nicht stillgeblieben zu sein.Womanizer, der Beute entdeckt hat, steht ihm auf die Stirn geschrieben. Ich kenne diesen Blick. Mein Ex Carlos hatte ihn in letzter Zeit perfektioniert, wenn er sich unbeobachtet fühlte.
Anthony stellt die Dose auf dem Küchenblock ab und kommt auf mich zu. Ich hoffe, mein höfliches Lächeln gibt nicht preis, wie ich mich innerlich verkrampfe.
„Welch angenehme Überraschung an diesem Nachmittag! Miss …?“
„Montero.“ Ich stehe auf und strecke ihm widerstrebend die Hand entgegen, darf ich doch durch die spontane Abneigung nicht den Plan gefährden. Er umgreift sie, als wollte er mich zu sich hinziehen. Das Leuchten in seinen Augen wird stärker. Er ist groß und von Nahem noch massiger. Feine Äderchen in den Wangen erzählen mir, dass er vermutlich regelmäßiger Gast bei den Whiskeyabenden vor dem Kamin ist. Er hat die unverkennbare Aura der Barker-Männer. Selbstsicher und dominant. Prince Charming, wenn es angebracht ist, doch im Herzen ein Jäger. Sein Lächeln entblößt eine Reihe blendendweißer Jacketkronen. Ich straffe die Schultern und überlege eine Strategie, wie ich ihm die Hand wieder entziehen kann, als eine beißende Stimme mir zu Hilfe kommt.
„Miss Montero, nehme ich an?“
Als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten, lässt er meine Hand los und fährt sich übers Haar. Irre ich mich, oder flackert kurz Panik in seinen Augen auf? Ich drehe den Kopf und sehe auf halber Treppe eine blonde Frau stehen.
Die Bruja.
Das Spiel beginnt!
Ich gehe ein paar Schritte auf die Treppe zu und halte im Blick, wie sie in vollendet damenhafter Haltung die letzten Stufen herabsteigt. Sie trägt High Heels und ein cremefarbenes Wickelkleid. Ihr puppenhaftes Gesicht würde vermutlich ohne die Schichten Make-up hübsch sein. Ihr Alter ist schwer einzuschätzen. Wenn die Aussage meiner Tante stimmt, ist sie Anfang vierzig. Was man ihr nicht ansieht. Obwohl ich den Impuls verspüre, zu Knicksen – warum eigentlich? –, reiße ich mich zusammen. „Señora Barker. Es ist sehr freundlich, dass Sie mich empfangen.“
Sie ignoriert die ausgestreckte Hand, scannt mich stattdessen von oben bis unten. Aha, professionelles Abchecken, ob ich Konkurrenzbin. Dann konzentriert sich ihr Blick auf den Mann hinter mir. Über meine Schulter sehe ich, dass er wie versteinert in der Küche steht. Wie ein ertappter Junge, geht es mir durch den Kopf.
„Anthony, was um alles in der Welt tust du hier? Hast du nichts Sinnvolles zu tun?“
Augenbrauekann sie.
Der Mann erwacht aus der Starre und tippt sich erleichtert an die Hutkrempe. „Bin schon weg, Lucille.“
Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge, als er die Terrassentür hinter sich zuzieht. „Und ich dachte, es wäre anstrengend, das Personal im Zaum zu halten“, murmelt sie vor sich hin, und einen Moment überlege ich, ob sie eine Reaktion von mir erwartet. „Wenn du hier anfangen willst, hast du dich strikt von den Männern dieses Hauses fernzuhalten. Hast du das verstanden?“ Ihr eiskalter Blick fixiert mich, und ich schlucke den sich im Hals bildenden Kloß hinunter, der aus Wut über die überhebliche Duzerei entstanden ist.
„Ja, Señora.“
Sie rollt mit den Augen und seufzt, als läge das Leid der Welt auf ihren Schultern. „Hör auf mit diesem mexikanischen Quatsch. Du sprichst mich mit Madam oder Misses Barker an. Hast du das verstanden?“
Das scheint ihr Lieblingssatz zu sein.
„Ja, Madam.“ Ich senke den Kopf, wie ich es vor dem Spiegel geübt habe. Immer demütig sein und an das Ziel denken, wiederhole ich ein innerliches Mantra.
„Du hast keine Arbeitserlaubnis, nehme ich an?“ Ich öffne den Mund, um zu antworten, doch sie winkt ab. „Reden wir nicht darüber. Ich habe deinen Lebenslauf gelesen. Die Referenzen sind exzellent. Wenigstens etwas. Wenn du dich an meine Regeln hältst, können wir es miteinander versuchen.“
„Selbstverständlich, Madam.“
„Gut. Du kannst im Dienstbotengebäude wohnen. Kost und Logis werden dir vom Gehalt abgezogen.“
„Selbstverständlich, Madam.“
„Wenn ich dich dabei erwische, wie du Trinkgeld annimmst oder den Männern schöne Augen machst, bist du raus. Hast du das verstanden?“
„Jawohl, Madam.“
„Wann kannst du anfangen?“
„Ich bin für drei Nächte in einem Hotel in Athens eingemietet und müsste noch ein paar persönliche Dinge …“
„Das interessiert mich nicht. Ich erwarte dich in drei Tagen, Valeria.“
Obwohl ich mit etwas in dieser Art gerechnet habe, zucke ich zusammen. Ärgerlich. Sie demonstriert damit, dass ich es nicht wert bin, sich meinen Namen zu merken. Tante Carmelas Schilderungen hätten mich darauf vorbereiten sollen.
„Valentina, Madam.“ Ich senke gespielt schüchtern den Blick.
Sie schnalzt mit der Zunge. „Wie auch immer. Maria wird alle weiteren Fragen klären.“ Sie deutet mit dem Kinn auf das Hausmädchen, das mir die Tür geöffnet hat und das die ganze Zeit über mit einer Zimmerecke verschmolzen war. Ihr Gesicht ist ausdruckslos.
Innerlich resigniere ich. Es wird einsamer als erwartet, den Plan durchzuziehen. Ich hätte eine Freundin gebrauchen können. Selbst wenn ich ihr niemals erzählen könnte, weshalb ich in Wahrheit hier bin. „Danke, Madam.“
Das Herz klopft mir bis zum Hals, als sich die Hexe von mir abwendet und durch die Terrassentür verschwindet.
Ich reiße mich zusammen, nicht in Jubel auszubrechen.
Lasset das Spiel beginnen.
​
Hottie
„Mit einem Gruß vom Hottieam Ende der Bar.“ Der dunkelhäutige Barkeeper stellt ein Glas Weißwein neben mein halb geleertes und zwinkert mir zu.
Einen Moment verliere ich mich im Anblick seiner gebogenen Wimpern, für die manche Frauen töten würden. Mein Gaydarschlägt bei Robbie, wie er laut Namensschild heißt, wild aus. Seine Wortwahl bestätigt, dass wir uns für dasselbe Team interessieren. Instinktiv schiebe ich das Glas zurück. In meiner derzeitigen Stimmung ist ein Typ, der mich in einer Bar aufreißt, das Letzte, was ich brauche.
„Robbie, sag dem Hottie, ich …“ Krampfhaft suche ich nach einer Ausrede. „Sag ihm, ich bin eine verheiratete Frau, und ich habe kein Interesse.“
„Schätzchen, bist du sicher?“ Mit seinen kaffeebraunen Augen deutet er verschwörerisch in Richtung meines Verehrers, den ich bis jetzt keines Blickes gewürdigt habe. Kein Wunder, dass Robbie das Gespräch mit mir sucht. Die Hotelbar ist gähnend leer, was mir gelegen kommt. Innerlich seufzend gebe ich der Neugier nach und drehe betont cool den Kopf. Grüne Augen, die ich unter Tausenden sofort wiedererkannt hätte, bohren sich in meine und lassen das Blut in meinen Ohren rauschen. Vor Überraschung rutsche ich fast vom Barhocker. Im letzten Moment halte ich mich an der polierten Holzkante des Tresens fest.
„Caramba!“, entfährt es mir.
Robbie kichert und reibt mit seiner Hand über die Andeutung eines Bärtchens. „Na, habe ich zu viel versprochen,Schwester?“ Seine Stimme dringt wie von Ferne zu mir.
Chin! Mist! Ich bin noch nicht so weit, ausgerechnet ihmzu begegnen.
„Soll ich ihm immer noch sagen, du hättest kein Interesse?“
Ohne es steuern zu können, schüttle ich den Kopf. Während ich nach außen hin versuche, eine coole Fassade aufrecht zu erhalten, überlege ich fieberhaft, was ich tun soll. Was, wenn er mich erkennt? Fliegt der Plan auf? Gleichzeitig pocht mir das Herz bis zum Hals, als mir bewusst wird, was hier geschieht.
„Weiß du, wer er ist?“, frage ich Robbie, mich an den letzten Strohhalm Hoffnung klammernd, dass ich mich kolossal irre. Er ist nur ein Durchreisender, der ihm ähnlichsieht. Warum sollte er in dieser Hotelbar sein? Mein aufgewühltes Gemüt spielt Streiche mit meiner Erinnerung. Kein Wunder, dass ich Gespenster sehe.
Robbie zuckt die Schultern. „Ich bin neu hier. Heute ist mein dritter Tag. Seiner Aufmachung nach kann er nur ein Cowboy von einer der Ranches in der Umgebung sein.“
Ich linse zu dem attraktiven Mann am anderen Ende der Bar und verstehe augenblicklich, weshalb Robbie zu dieser Schlussfolgerung kommt. Neben dem Hottieliegt ein Cowboyhut auf dem Tresen.
Er dreht den Kopf und sieht mich an. Mich! Wie oft habe ich mir früher gewünscht, dass er mich als Frau wahrnimmt? Sofort schaue ich weg. Er darf mich nicht erkennen!
Kein Zweifel, er ist es. Und er lädt mich auf einen Drink ein. Was nur heißen kann, dass er an mir interessiert ist, oder? Und das wäre er nicht, wenn er mich erkannt hätte. Sofort schelte ich mich. Es ist lange her, und ich bin nicht mehr das hässliche Entlein von damals, das es nötig hat, die Aufmerksamkeit eines attraktiven Jungen wie Brosamen aufzupicken. Der Gedanke gibt mir Mut. Mit zittrigen Fingern umfasse ich den Stiel des Glases und reiße mich zusammen, ihn vor Aufregung nicht zu zerbrechen, als ich ihm zuproste. Die grünen Augen blitzen bei meiner Geste auf. Ich falle fast in Ohnmacht, als ich ihm dabei zusehe, wie er lässig vom Barhocker rutscht, die Flasche Corona nimmt, den Cowboyhut greift und auf mich zukommt. Ich schlucke. Er sieht anders aus als der Junge, den ich vor Jahren angeschmachtet habe. Männlicher. Muskulöser. Die breiten Schultern sprengen fast das eng anliegende schwarze T-Shirt. Kräftige Beine zeichnen sich unter der Jeans ab. Allein das hätte gereicht, meine Hormone in Wallung zu bringen. Doch es kommt schlimmer: Er fährt sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar, das er länger trägt als früher. Und dann erwischt er mich eiskalt mit diesem grübchenzeigenden Lächeln, von dem ich mir damals gewünscht habe, es würde nur mir gelten. Es könnte sein, dass mir ein Stöhnen entfährt.
„Oh, oh! Sprungbereites Raubtier auf neun Uhr. Ich geh dann lieber mal. Viel Spaß euch zwei.“
Nur am Rande bekomme ich den Rückzug des Barkeepers mit. Er kann doch jetzt nicht abhauen. Irrwitzigerweise habe ich den Impuls, ihn anzuflehen, mich nicht allein zu lassen.
Zu spät. Clint steht vor mir. Ich lege den Kopf in den Nacken, um in seine Augen sehen zu können, als er vor mir steht.
„Hey. Ich bin Clint.“
Ich weiß, möchte ich schreien. Als ich ihm in die Augen sehe, flackert sein Lächeln. Seine Augen weiten sich. Ich verkrampfe mich, erwarte jeden Moment, dass er mich erkennt, auf dem Absatz kehrtmacht und die Flucht ergreift. Dann schüttelt er fast unmerklich den Kopf und scheint den Gedanken, dass ich ihn an mich erinnere, abzustreifen. Das Ganze hat keine drei Sekunden gedauert. Obwohl ich im tiefsten Inneren enttäuscht bin, entscheide ich mich instinktiv dagegen, ihn wissen zu lassen, dass ich ihn von früher kenne. Er schmunzelt. So schöne Lippen. Die Unterlippe ein wenig voller als die obere. Sollte das überhaupt möglich sein, ist er noch atemberaubender als damals. Es ist so lange her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
„In der Regel antwortet man mit ‚Und ich bin … Trudy’. Oder so.“
Häh?Ich habe Mühe, der anspruchsvollen Konversation zu folgen. „Wer ist Trudy?“
Er lacht und fährt sich wieder durchs Haar. Mein Blick klebt am Spiel seiner Muskeln. Die Geste kommt mir vertraut vor. Das hat er früher schon gemacht, wenn er einem Mädchen imponieren wollte. Nur, dass das Mädchen niemals ich war. Er erkennt mich nicht! Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder beleidigt sein soll.
Als er merkt, dass ich nicht antworte, grinst er. „Du willst mir deinen Namen nicht verraten? Ist okay, mit Trudy kann ich arbeiten.“
Langsam fällt der Groschen. Vielleicht ist es gut, wenn wir es bei Trudy – was für ein bescheuerter Name, aber besser als der Spitzname, den mir die Barkerbrüder früher verpasst haben – belassen. Welche Konsequenz das in ein paar Tagen haben wird, ist mir egal. Ich muss erst die Situation überstehen, ohne vom Hocker zu fallen. Ich setze ein Lächeln auf. „Dann arbeite mal schön.“
Er legt den Kopf in den Nacken und lacht. Nicht nur das Spiel seiner kräftigen Halsmuskulatur macht mich schwach. Ich liebe dieses Lachen, auch wenn es teilweise unschöne Erinnerungen weckt. Ich habe es gehört, wenn er mich gemeinsam mit seinen Brüdern aufgezogen hat. Selbst wenn es nie bösartig war. Nur gedankenlos. Typisch für Jungs im Teenageralter, die meinen, sie hätten die Welt begriffen und alles drehte sich um sie. Das wusste ich damals noch nicht, als es mich tiefer verletzte als gewollt. Seltsam, dass der Laut sich gleich anhört, obwohl die Intention des Lachens eine andere ist. Um meine Unruhe zu verbergen, nehme ich einen großen Schluck Weißwein.
„Ich nehme an, du bist auf der Durchreise“, sagt er mit einem Blick auf mein Businessoutfit.
Das Bedürfnis nach einem Schluck Wein war so groß, dass ich mich nicht umgezogen habe, sondern gleich die Hotelbar ansteuerte. Nur die unzähligen Haarnadeln, die meinen Kopfschmerz verstärkten, habe ich entfernt.
Sogar dieses scheinbar oberflächliche Taxieren ist sexy bei ihm. Dabei weiß ich genau, dass nichts an ihm oberflächlich ist. Ich neige den Kopf und versuche so, eine Antwort zu umgehen.
Er akzeptiert mein ausweichendes Verhalten und nimmt einen langen Schluck aus der Bierflasche. „Bist du wirklich verheiratet?“
Okay, da hat jemand gute Ohren. Er scannt meine Finger. Kein Ring.
Ich schüttle den Kopf. „Nur, wenn es passt, um aufdringliche Verehrer abzuwimmeln.“
„Dann solltest du dir einen Fake-Ring zulegen.“
Ich lächle und genieße es, wie sich sein Blick weitet, als er meinen Mund anschaut. Langsam finde ich Gefallen an dem Gedanken, dass Clint auf mich steht. Wer hätte das gedacht? Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Brustkorb aus. Triumph? Glück? Ich schlucke die Aufregung mit einem weiteren Schluck hinunter. „Hätte der dich abgehalten?“
Die Flasche, die er an den Mund führen wollte, verharrt auf halbem Weg. Fasziniert beobachte ich, wie sich der Adamsapfel bei seinem offensichtlichen Schlucken senkt. Sein Blick wird eine Spur dunkler, als er den Kopf schüttelt. Fast erwarte ich, dass ein Move von ihm kommt. Meiner Erinnerung nach hat er damals keine Zeit verschwendet, wenn er ein Mädchen begehrte. Zu meinem Erstaunen hebt er die Flasche. Sein herrlicher Mund schließt sich um die Öffnung, als liebkoste er die Haut einer Frau. Rasch schließe ich die Lippen, die sich bei dem Anblick ungewollt geöffnet haben.
„Okay … Trudy. Lass mich raten. Du bist …“ Er tippt sich mit dem Finger gegen das Kinn. Ein schönes Kinn. Mit einer Spalte in der Mitte. „Anwältin.“
Ich verschlucke mich fast am Wein und kann gerade noch einen peinlichen Hustenanfall abwenden. „Nein, keine Anwältin“, krächze ich und fische eine Papierserviette aus einem metallenen Spender auf dem Tresen. Unter seinem hungrigen Blick tupfe ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
Er scheint jede meiner Handbewegungen zu studieren. Ich warte einen Moment ab, doch er stellt keine weitere Frage.
Mit einem Mal reitet mich der Teufel, und ich sage die Wahrheit. „Ich bin Tierärztin.“
Ein anerkennendes Lächeln huscht über seine Züge und erfüllt mich albernerweise mit Stolz. Dann runzelt er die Stirn und scannt erneut mein Outfit.
Ich komme der offensichtlichen Frage zuvor: „Ich weiß, das Outfit ist ungewöhnlich. Aber ich bin nicht beruflich hier.“ Er nickt und scheint die Erklärung zu akzeptieren. Ich weiß nicht, warum, aber ab diesem Moment verläuft unser Gespräch nicht mehr so sperrig.
Er redet über die Ranch, die Rinder und das diesjährige Branding, ein großer Event im Frühjahr auf jeder Rinderfarm, bei der die Kälber gebrandmarkt werden. Manchmal auch geimpft und kastriert. Wir reden über Tiere. Ich bin froh, ein unverfängliches Thema gefunden zu haben, das uns beide interessiert. Es ist offensichtlich, wie sehr ihm die Ranch und das Wohlergehen der Tiere am Herzen liegt. Er scheint erleichtert, dass wir ein Gesprächsthema haben. Vermutlich hat er nicht damit gerechnet, als er mir den Drink spendiert hat.
Ein Schatten liegt in seinem Blick. Einmal mehr frage ich mich, warum er in dieser Hotelbar hockt. Ich schiele auf die Uhr. Dinnerzeit. Meiner Erinnerung nach eine Zusammenkunft auf der Ranch, die den Brüdern heilig war. Doch Clint macht nicht den Eindruck, als wollte er woanders sein als hier in dieser Bar mit mir. Fast überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Bevor ich meine Tarnung auffliegen lasse, winke ich Robbie zu mir und bestelle ein weiteres Glas Wein. Der Blick des Barkeepers huscht interessiert zwischen mir und Clint hin und her, als er es mir mit einem Zwinkern hinstellt.
Die Zeit vergeht, und ich trinke mehr Wein, als mir bekommt. Clint ist charmant und witzig. Der Alkohol lässt das Blut durch meinen Körper surren, mich den Kopf beim Lachen in den Nacken legen und frivoler lächeln, als ich es von mir kenne. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich fühle mich lebendig wie lange nicht mehr. Die Zeit verrinnt. Als unser Magen knurrt, lachen wir beide und bestellen Sandwiches. Als Robbie das dritte Mal ein Gähnen unterdrückt, greife ich nach meiner Handtasche. „Es war ein langer Tag. Ich sollte dann …“
Unerwartet kommt der Move. Er hebt die Hand und berührt eine meiner schwarzen Locken. Mit mir unerträglich vorkommender Langsamkeit lässt er das Haar durch seine Finger gleiten. Von ihm nicht unbemerkt beschleunigt sich meine Atmung. Cool bleiben. Sein Blick versenkt sich in meinem. Wenn sonst unzählige Gedanken und Ängste mein Hirn durcheinanderwirbelten, bin ich schlagartig ruhig. Versinke in diesen smaragdgrünen Seen. Die Erinnerung an einen längst verdrängten Nachmittag in meiner Jugend schimmert kurz an die Oberfläche meines Bewusstseins. Poch, poch, poch. Mein Herzschlag und meine Atmung verlangsamen sich. Kleine Lachfältchen zaubern weiße Linien in sein sonnengebräuntes Gesicht. Und diese Grübchen. Zum Sterben schön. Erstmals fällt mir auf, dass das Muttermal auf seiner rechten Wange in Wahrheit drei kleine Muttermale sind. So dicht beieinander gleichen sie einer Sternenkonstellation. Unfassbar, dass ich ihm ausgerechnet heute so nah bin, um das zu erkennen. Automatisch lecke ich mir über die Lippen, was ihm nicht entgeht. Was mir nicht entgeht. O Gott, ich führe mich auf wie ein explodierender Teenager!
„Hast du ein Zimmer hier, Trudy?“, fragt er, und seine Stimme klingt eine Spur dunkler.
Ich kann ein Keuchen nicht unterdrücken. Ich hatte damit gerechnet, dass wir einen Drink nehmen, ein wenig flirten und dann jeder seiner Wege geht. Und jetzt geht er nach ein wenig Plauderei gleich in die Vollen? Ich schlucke trocken. Das habe ich noch nie getan. Einen Fremden mit aufs Hotelzimmer zu nehmen. Für Sex.
Halt. Er ist kein Fremder. Das ist Clint. Soll ich wirklich die einmalige Gelegenheit verstreichen lassen, den Traum meiner Jugend wahr werden zu lassen? Mein Körper sendet eindeutige Signale. Nach dem Desaster mit Carlos habe ich mir Streicheleinheiten verdient, findet mein Verstand ungefragt ein Argument dafür. Dagegen will mir nichts einfallen.
Der Daumen, der sanft die Linie meiner Wangen nachfährt, löst elektrisierende Ströme in meinem Körper aus, die direkt in den Unterleib schießen. Er beugt sich vor, und ich schließe die Augen vor Wonne, als sein herb-männlicher Duft mich umhüllt. Dieser Duft, den ich einen Sommer lang einem von ihm stibitztem T-Shirt zu entringen versuchte, in das ich nachts meine Nase vergraben habe. Und jetzt gibt er ihn mir freiwillig. Komm wieder auf den Boden!, ermahne ich mich.
Seine Lippen streifen über die zarte Haut unter meinem Ohr, und ich seufze. „Du hast etwas an dir, Trudy, was mich unglaublich anmacht.“ Er unterstreicht die Worte, indem er mit der Zungenspitze meine Ohrmuschel entlangfährt.
Hijole!O! Mein! Gott!
Er dreht den Barhocker, sodass er sich zwischen meine gespreizten Beine stellen kann. Die Hitze, die von ihm ausgeht, ist unerträglich. Ich schmelze in seine Berührung.
„Mein Instinkt sagt mir, dass es dir ähnlich geht. Weshalb also weiter Zeit verschwenden, wenn ich mit meiner Zunge schon längst deinen Körper erkunden könnte?“ Die Frage ist rein rhetorisch.
Endlich verstehe ich, warum die Mädchen, mit denen ich ihn beobachtet habe, als wir alle beim Schwimmen am See waren, kurzatmig wurden und kurz darauf bereitwillig mit ihm im Gebüsch verschwunden sind. Neidvoll habe ich damals die geröteten Wangen und den glasigen, aber zutiefst befriedigten Ausdruck beobachtet, wenn sie zurückkehrten. Das Messer der Eifersucht schlug tiefe Wunden in mein armes Mädchenherz, das sich in seiner Unerfahrenheit nicht recht zusammenreimen konnte, was genau im Gebüsch geschah. Jetzt weiß ich es. Der Gedanke, dass endlich ichan der Reihe bin, lässt mich jede Vorsicht in den Wind schlagen. Mein Entschluss steht fest. Wenn ich diese ganze Nummer durchziehe, sollte ich wenigstens die Chance auf ein wenig Zärtlichkeit nutzen. Sobald er erfährt, wer ich in Wirklichkeit bin, wird es zu spät sein.
Jetzt oder nie!
Ohne zu überlegen, umfasse ich seinen Nacken und ziehe ihn zu mir heran. Als hätten sie endlich ihr Zuhause gefunden, schmiegen sich meine Lippen an seine. Obwohl er so ein muskulöser Mann ist, sind sie weich. Ich lächle, als ich an seiner Reaktion merke, dass ich ihn überrumpelt habe. Er fängt sich schnell. Mit einem Knurren zieht er mich an sich. Ich spüre seine Härte zwischen meinen Beinen und öffne erstaunt den Mund. Er nutzt den Moment und lässt seine Zunge durch meine geöffneten Lippen schnellen. Der Moment, in dem sich unsere Zungen berühren, markiert den Punkt, in dem keine Umkehr mehr möglich ist. Hungrig kosten wir voneinander, und er schmeckt gut. Nach Sonne und Kraft. Seine Hand knetet meinen Hintern und macht mich willenlos. Nach einer gefühlten Unendlichkeit lösen wir uns schwer atmend voneinander. Seine Augen glänzen verhangen. Ich liebe es, dass ich ihn ebenso anmache wie er mich. Ich rutsche vom Barhocker, schnappe meine Handtasche und lasse ihn stehen. Als ich an der Tür bin, schaue ich über die Schulter zurück und muss bei seinem irritierten Gesichtsausdruck lachen.
„Worauf wartest du? Komm!“
Unsichtbar
„Du kannst oben schlafen.“
Fassungslos starre ich auf das Etagenbett, dessen unterer Teil offensichtlich belegt ist. Ich sammle mich und schließe die Augen. Verglichen mit den Kosten für ein Hotelzimmer erschienen mir die fünfhundert Dollar akzeptabel, die Lucille mir für die Übernachtung auf der Ranch vom Monatsgehalt abzieht. Naiverweise bin ich davon ausgegangen, dass ich ein Zimmer für mich haben würde. Einen Rückzugsort, den ich dringend benötige, wenn ich in Ruhe meine Erkenntnisse notieren möchte, mit Carmela telefonisch Rücksprache halte, oder mit Manolos Anwalt spreche. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, mir ein Zimmer mit Maria teilen zu müssen. Und ein Etagenbett. Wobei zwei nebeneinanderstehende Betten nicht in die winzige Kemenate gepasst hätten, die Lucille für die Hausmädchen vorgesehen hat. Die sechs großzügigen, leer stehenden Gästezimmer, die es zusätzlich zu den Schlafzimmern der Bewohner im Anbau zum Haupthaus gibt, sind wohl zu fein für uns. So eine Hexe. Ich atme tief durch und lasse mir vor Maria, die mich prüfend mustert und wohl auf eine arrogante Bemerkung wartet, nichts anmerken. Wer weiß, ob sie Lucille sofort meine Reaktion petzt.
„Okay. Geht klar.“ Bilde ich mir das ein, oder wird ihr Blick eine Spur anerkennender?
„Die linke Hälfte des Schranks ist deine. Unsere Uniformen können wir in der Waschküche lagern und dort notfalls bügeln. Wie viele hast du?“
„Eine. Reicht das nicht?“, murmle ich und inspiziere den winzigen Schrank. Seufzend beginne ich, den Inhalt der Reisetasche in die drei Fächer zu räumen. Wenigstens ist es sauber, und der Ausblick ist hübsch. Durch das schmale Fenster erspähe ich die Pferdekoppel, auf der ein paar Prachtexemplare grasen. Zumindest an den Tieren scheint man nicht zu sparen.
„Eine reicht nicht. Lucille besteht darauf, dass wir picobello aussehen. Wenn sie einen Fleck entdeckt, bist du raus.“
„Aber für die eine hat sie mir schon hundert Dollar abgeknöpft.“
Maria zuckt mit den Schultern. „Ist halt so. Man gewöhnt sich daran.“
Ich beiße die Zähne zusammen und hoffe, dass meine Zeit hier so schnell wie möglich vorbei ist. Denk an den Plan!
Maria setzt sich auf ihr Bett und beobachtet mich. Mist. Ich möchte nicht, dass sie meinen Laptop sieht. Ich lasse ihn spontan in der Tasche, die ich unter den Schrank schiebe.
„Sonst irgendetwas, was ich wissen sollte?“, frage ich und drehe mich zu ihr um.
„Halte dich an die Regeln und von Anthony fern.“
Ich erinnere mich an den Draufgänger und nicke. „Ja, den habe ich schon kennengelernt.”
Wir tauschen einen Blick, und mit einem Mal sind wir auf derselben Seite. Ich streiche den Rock der Uniform glatt, und der Stoff, sofern man die neunzig Prozent Polyester überhaupt so nennen kann, knistert unter meinen Fingern. Ich bin mir sicher, dass Lucille nicht mehr als dreißig Dollar im Einkauf dafür bezahlt hat.
„Du solltest dir das Haar hochstecken. Oder wenigstens einen Pferdeschwanz machen“, sagt Maria und schaut auf die Armbanduhr. „In fünfzehn Minuten beginnt unsere Schicht.“
„Das hatte ich sowieso vor.“ Ich fische ein Haargummi aus dem Kulturbeutel und fasse meine Locken hinter dem Kopf zusammen.
Maria beugt sich vor. „Ist das ein Knutschfleck?“ Sie zeigt auf den roten Fleck knapp unter meinem rechten Ohr.
Erschrocken lasse ich das Haar fallen, das wie ein Vorhang die verräterische Stelle verdeckt.
Sie winkt ab. „Mir ist egal, was du in deiner Freizeit machst. Aber lass das nicht Lucille sehen. Am besten du verdeckst ihn. Brauchst du Concealer?“
Verblüfft über ihr Verständnis nicke ich.
Sie kramt in einer Tasche unter ihrem Bett und reicht mir eine ganze Palette mit Schminkutensilien.
Ich grinse, und sie lächelt zurück.
„In Athens gibt es eine coole Bar. Wenn wir das nächste Mal zusammen frei haben, zeig ich sie dir. Mein Freund hat einen Pick-up und kann uns fahren. Wenn du Lust auf heiße Cowboys hast, bist du dort genau richtig.“ Maria scheint nicht so stocksteif zu sein, wie ich sie eingeschätzt habe, und ich entspanne mich merklich.
Es ist bestimmt nicht schlecht, eine Verbündete zu haben. Ein weiteres paar Ohren. Doch dafür ist es zu früh. Erst abwarten, wie sich das Verhältnis zu ihr entwickelt, wenn wir arbeiten. Ich beginne, den Fleck mit einer beigen Paste zu betupfen. „Hört sich gut an. Bisher kenne ich nur die Hotelbar.“ Vom Knutschfleck ist nichts mehr zu sehen, und ich reiche ihr das Kästchen zurück.
Sie verzieht den Mund. „Im Athens Star? Da ist doch tote Hose.“
Ich beiße mir auf die Lippen. Denn tote Hosekann ich beim besten Willen nicht bestätigen. Ungewollt kommt mir der Laut in Erinnerung, als Clint den Reißverschluss seiner Jeans geöffnet hat. Eine Ewigkeit haben wir von innen gegen die Hotelzimmertür gepresst geknutscht. Oder besser gesagt: uns gegenseitig verschlungen. Dabei hatte er mich zielsicher der Kleidung entledigt. Vollkommen nackt stand ich vor diesem Bild von einem Mann, dessen Blick anerkennend über meine Kurven fuhr und an der vor Erregung zitternden Brust hängenblieb.
„Ich liebe Frauen mit Titten und Arsch. Echte Frauen“, flüsterte er heiser. Wie in Zeitlupe öffnete er seine Jeans. Mit einer sexy Drehung der Hüfte forderte er mich auf, den Rest zu erledigen.
Flach atmend legte ich die Fingerspitzen auf die Haut oberhalb des Hosenbunds und ließ sie das V seiner Hüften hinabwandern. Meine Fingerspitzen zucken bei der Erinnerung daran …
„Ist alles in Ordnung, Valentina? Du wirkst fiebrig. Nicht, dass du am ersten Tag krank wirst. Dann kannst du direkt wieder einpacken.“
Ich reiße mich zusammen. Die Erinnerungen an die Nacht mit Clint gehören fest weggesperrt in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses. Ich hoffe, sie hören bald auf, ungefragt in den unpassendsten Momenten aufzupoppen. Und ich hoffe, das selige Gefühl, das ich dabei habe, verschwindet gleich mit. Es war eine Nacht, und sie wird sich nicht wiederholen.Was geschehen wird, wenn ich ihm auf der Ranch über den Weg laufe, verdränge ich gleich mit. „Nein, ich bin nur nervös. Lass uns loslegen, dann geht es vorbei.“ Ich klatsche in die Hände, um die überschüssige Energie loszuwerden.
Maria führt mich durchs Haus und zeigt mir auf jedem Stockwerk die kleinen Kammern, in denen sich Putzutensilien und Bettwäsche befinden. Endlich sehe ich die Küche, die wie vermutet im Keller ist. Leider ist sie alles andere als gemütlich, wirkt eher wie eine sterile Restaurantküche. Ein Team von zwei Köchen mit je einem Gehilfen ist am Werk. Maria stellt sie mir vor, und ich versuche, mir alle Namen zu merken. Warum um alles in der Welt braucht Lucille auf dieser Ranch ein Kochteam?
Betrübt erkenne ich, dass nichts mehr so ist, wie ich es aus der Kindheit in Erinnerung habe. Selbst die Garage, in der mein Onkel liebevoll den Fuhrpark der Ranch betreut hat, ist anders. Die Hightech-Halle mit den glitzernden Luxuskarossen hat nichts mehr mit dem heimeligen Rückzugsort von früher gemein, an dessen Rückwand unzählige Werkzeuge hingen. Ich nehme an, dass die Ranchfahrzeuge weit entfernt vom Haupthaus ausgelagert sind. Von dem Apartment, das sich damals über der Garage befand, ist nichts mehr zu sehen.
Das Bedürfnis der Familie, sämtliche Spuren auszulöschen, ist nachvollziehbar.
Leidenschaftslos führt mich Maria durchs Haus. Kein Vergleich zu meiner Tante, die die Arbeit hier geliebt hat und den Haushalt als ihr Reichansah.
„Wie lange bist du schon hier?“, wage ich zu fragen und kann die Aufregung kaum verbergen. Vielleicht hat sie wertvolle Informationen?
„Erst diese Saison. Ich glaube, kein Hausmädchen bleibt länger bei Misses Barker.“
Obwohl sie nichts Offensichtliches gesagt hat, drückt dieser Satz alles aus. Enttäuscht nicke ich.
Wir treffen auf zwei weitere Hausmädchen, mit denen ich nicht gerechnet habe und die offenbar knapp in der Zeit sind.
„Wo bleibt ihr denn?“ Maria zeigt auf die Uhr.
In zwei Minuten, um fünf Uhr morgens, beginnt der Arbeitstag.
„Deck uns, wir brauchen nur fünf Minuten.“ Die Blonde reicht Marie zwei Armbänder.
Ich habe auch eines erhalten.
Maria verdreht die Augen, nickt und nimmt sie entgegen. „Okay, aber das ist wirklich das letzte Mal.“
„Wozu braucht Misses Barker vier Hausmädchen?“, frage ich.
„Weiß der Henker. Vermutlich, weil es nach außen hin gut aussieht. Im Grunde ist die Hausarbeit schnell erledigt und die Familie isst nur abends gemeinsam. Elena und Inma sind Aushilfen, wenn Misses Barker Gäste erwartet. Sie wohnen nicht auf der Ranch”, klärt Maria mich flüsternd auf.
„Wie viele Personen nehmen am Dinner teil?“ Mein Herzschlag erhöht sich. Ich weiß, der Moment wird früher oder später kommen, in dem Clint begreift, dass ich ihn angelogen habe. Habe ich das?
„Unterschiedlich. Fester Bestandteil der Dinner sind Misses Barker, ihr Mann John und dessen Bruder Anthony. Manchmal ist Tate, der mittlere Sohn dabei. Wenn er nicht auf Tour ist. Der älteste Sohn, Clint, bleibt meist fern. Er wohnt im Blockhaus im Südbereich. Etwa zwei Meilen von hier entfernt. Ich glaube, er mag Lucille nicht.“ Ihr Gesicht bleibt neutral, doch am Glitzern in ihren Augen merke ich, dass es mehr als nur Glaubenist.
„Aha“, antworte ich möglichst unbeteiligt, während ich versuche, die Informationen einzuordnen und mir die Erleichterung darüber nicht anmerken zu lassen, dass ich eine Gnadenfrist für das unangenehme Treffen mit Clint erhalte. Sie hat Shane, den dritten Bruder, nicht erwähnt. Er liebte die Ranch. Warum ist er nicht hier?
„Dieser Tate. Was meinst du mit: ‚Er ist auf Tour’?“
Sie schmunzelt, während sie ihres und die zwei Armbänder über einen Scanner hält, der durch ein Piepen signalisiert, dass eine Information eingespeichert wurde. Hightech-Zeiterfassung auf einer Ranch. Maria lächelt und sieht wohl in meinen Augen, dass ich es ebenso genieße wie sie, Lucille zu betrügen, die vermeintlich alles unter Kontrolle hat. „Er ist Musiker. Wie ich gehört habe, erfolgreich“, erklärt sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wenn du das Haus verlässt, checkst du hier aus. Wenn du wiederkommst, checkst du ein. Den Scanner findest du in fast jedem Gebäude auf dem Gelände. Er dient gleichzeitig als Berechtigung wie auch als Zeiterfassung. Denk immer daran, dich einzuchecken, sobald du im nächsten Gebäude bist. Ansonsten wird dir die Arbeitszeit nicht gutgeschrieben.“
„In welche Gebäude dürfen wir nicht?“
„Ganz klar nicht in die Schlafbaracken der Cowboys. Worüber ich erleichtert bin. Das sind solche Dreckschweine.“
Ich grinse sie an.
„Und Lucilles Arbeitszimmer ist tabu. Sie lässt uns dort nur putzen, wenn sie dabei ist.“
Ich habe aufgehorcht und kann die Aufregung kaum unterdrücken. „Hat sie etwas zu verbergen?“, frage ich, begierig nach jeder Information.
Maria zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Sie verbringt die Vormittage regelmäßig dort. Ich habe sie mal durch die Tür telefonieren hören. In der anderen Zeit liegt sie am Pool oder empfängt Gäste. Wenn sie nicht gerade in Dallas bis zum Umfallen shoppt.“
„Und John? Ist das nicht eigentlich der Chef von allem? Hört sich so an, als stünde er unter Lucilles Pantoffel.“
Sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht. „Glaub mir, Valentina. Auf dieser Ranch stehen alle unter Lucilles Pantoffel. Außer vielleicht Clint. Der geht ihr aus dem Weg. Und den Tipp kann ich dir auch nur geben.“
Ich kann nicht leugnen, dass mein Herzschlag bei der Erwähnung von Clint zugelegt hat. Zufrieden registriere ich, dass er Lucille nicht mag. Wie ich. Hey, eine Sache, die wir gemeinsam haben!
Der Tag vergeht ohne nennenswerte Ereignisse. Ich erledige die Aufgaben, die Maria mir zugewiesen hat. Dabei hilft mir, dass ich während des Studiums als Zimmermädchen in einem Hotel in Austin gejobbt habe. Lucille hat den dortigen Personalleiter, den ich als Referenz bei der Bewerbung angegeben habe, tatsächlich kontaktiert und nach mir gefragt. Während meine Finger die vertrauten Handgriffe erledigen, versuche ich, mir jedes einzelne Detail zu merken. Bislang ist mir nichts untergekommen, was mich auch nur ansatzweise weiterbringt. Es sei denn, man zählt den Stapel Pornohefte, den ich unter Anthonys Bett finde, zu tiefschürfenden Erkenntnissen. Der Mann ist offensichtlich nicht im 21. Jahrhundert und beim Video-Streaming angekommen. Ich wische drumherum.
Am Nachmittag bin ich damit beschäftigt, Lucilles leeres Cocktailglas neben der Liege am Pool wegzuräumen, als eine markante Stimme mich zusammenzucken lässt. Voller Zorn. Hass? Leidenschaft! Die Zellen meines ganzen Körpers richten sich auf diese Stimme aus und erinnern sich daran, wie sie unter Berührungen vor Lust explodiert sind. Bevor er in mich eindrang.Meine Hände zittern.
„Das ist mir scheißegal, Lucille. Und wenn wir Doc Carrigan aus Austin einfliegen lassen. Sie ist es wert.“
Aus den Augenwinkeln sehe ich Clint, der etwa zweihundert Meter entfernt bei der Koppel mit dem Rücken zu mir steht. Sein Cowboyhut liegt tief im Nacken, die Hände neben den schmalen Hüften zu Fäusten geballt. Er überragt Lucille, die trotz der High Heels winzig wirkt. Ihre Hände sind entschlossen in die Seite gestemmt, und sie reckt trotzig das Kinn. Ich kann Clints Gesicht nicht sehen, doch seiner donnernden Stimme nach zu schließen ist er stinksauer. Obwohl er mich nicht gesehen hat und als Hausmädchen vermutlich kaum beachten wird, drehe ich mich instinktiv zur Seite und fahre fort, im Zeitlupentempo den Poolbereich zu säubern. Die Polster sollten dringend ausgeschüttelt werden.
„Bonnie ist ein alter Klepper. Ihre besten Zeiten sind vorbei. Und das schon lange. Ich werde nicht noch mehr Geld in dieses Pferd stecken. Es reicht mir.“
Wie aufs Stichwort ertönt das Gewieher einer Stute aus dem Stall. Als ich automatisch den Kopf in Richtung des Lauts drehe, sehe ich eine Gruppe Cowboys, die dem Streitgespräch lauschen und dabei vorgeben, zu arbeiten. Einer der Männer entdeckt mich und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich schmunzle und wische ein paar unsichtbare Krümel von einem der Designertischchen zwischen den Poolliegen.
„Ich habe dich nicht um Geld gebeten. Warum sollte ich um etwas bitten, das mir gehört?“ Clints Stimme ist so eiskalt, dass mir ein Schauder über den Rücken läuft.
Ich bilde mir ein, ein Aufflackern von Furcht in Lucilles Zügen zu erkennen. Ihr künstliches Lachen hallt schrill über den perfekt gestutzten Rasen zwischen der Koppel und dem Pool.
„Ich bitte dich, Clint. Dir gehört gar nichts.“
„Das werden wir sehen. Ich lasse mir die Ranch nicht durch deine Machenschaften wegnehmen.“
Lucille zieht die Brauen hoch. „Hast du es also endlich herausgefunden?“
Clint legt den Kopf in den Nacken, als erflehte er Geduld. „Diese mittelalterliche Posse kann nicht euer Ernst sein.“
Lucilles Antwort in Form eines verkniffenen Lächelns spricht Bände. „Es liegt ganz allein an dir, Clint. Dein Vater hat eure Anteile fest angelegt. Und du kennst die Bedingungen.“ Die darauffolgende Stille ist bedrohlicher, als wenn Clint herumbrüllen würde.
„Darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Die Papiere liegen gerade bei Suttons zur Prüfung. Du weißt, wie exzellent er ist, Lucille.“ Die Art, wie er ihren Namen ausspricht, ätzt wie Säure. „Noch etwas: Wenn Bonnie deinetwegen stirbt, wirst du keinen ruhigen Tag mehr haben. Das verspreche ich dir.“
Selbst mir wird bei seinem Tonfall eiskalt, und ich bin froh, hinter einem Sonnenschirm Schutz vor der Frostwelle zu finden, die urplötzlich über den Hof weht.
Clint lässt Lucille stehen, reißt die Tür eines Pick-ups auf, der vor der Scheune steht, und ist innerhalb von zwei Minuten mit quietschenden Reifen vom Hof gebraust. Ob er in die Hotelbar fährt? Der Drang, ihm hinterherzufahren, für ihn da zu sein und seine Wut zu lindern, ist mit einem Mal übermächtig. Oder fürchte ich, er würde eine andere Trudy finden?
„Was gibt es da zu glotzen, Valeria?“
Chin! Ich war so versunken, Clint nachzuschauen, dass ich Lucille aus den Augen gelassen habe. „Nichts, Madam. Möchten Sie noch etwas Eistee?“
Sie blickt mich scharf an. Dann tritt Resignation in ihre Mimik. Jeder Gedanke an mich scheint verschwendet, und sie stöckelt ins Haus.
Ich verschränke einen Moment die Finger ineinander, um das Zittern meines Körpers in den Griff zu bekommen.
Und mich davon abzuhalten, sie zu erwürgen.