
LESEPROBE „LONDON HEART - Gefährliche Liebe"
Zielperson
„Nach dir.“ Mit einem verschmitzten Lächeln hält Nick mir die Glastür auf.
Ich verdrehe die Augen. „Gentleman steht dir nicht. Lass es lieber bleiben.“ Ich lache, was mich nicht davon abhält, als Erste durch die Tür zu gehen. Gespielt empört zwickt er mir in die Seite und bestätigt damit meine Einschätzung.
„Das tat weh“, murmle ich, vergesse aber im selben Moment den Drang, über die brennende Stelle zu reiben. Denn ich bin von der Atmosphäre, die ich betrete, überwältigt. Ein moderner, riesiger Raum, ganz in Weiß gehalten, dessen kathedralenartiges Deckengewölbe von ebenfalls weißen rechteckigen Säulen gehalten wird. Im Gegensatz dazu ist der Großteil der Gäste in Schwarz gekleidet. In Grüppchen stehen sie vor den überdimensionalen Gemälden, die realistisch wie Fotografien wirken. Aus den Schwarz-weiß-Motiven stechen rote Details heraus. Auf den ersten Blick erkenne ich, welches Talent der Künstler hat. Das vertraute Kribbeln setzt ein, wenn ich es mit Kunst zu tun habe. Wäre ich nicht beruflich hier, würde ich die Gäste ausblenden und mich auf die Exponate konzentrieren. Ich freue mich auf die Bilder. Der Künstler hatte vor zwei Jahren in einer kleineren Galerie hier in London ausgestellt, doch ich hatte es nicht geschafft, mir die Ausstellung anzusehen. Dezentes Gemurmel hängt in der Luft, das sich unwesentlich über die klagende Stimme von Billie Holiday erhebt, die den Anlass musikalisch untermalt. Hier ist die Crème de la Crème Londons versammelt, die bei solchen Anlässen niemals die angemessene Lautstärke überschreiten würde. Alles an dem Raum schreit nach Stil. Auf einen Blick erfasse ich, dass Schmuck und Uhren an den Körpern der Gäste dem Bruttoinlandsprodukt eines afrikanischen Kleinstaates entsprechen. Instinktiv ziehe ich den Rocksaum des kleinen Schwarzen, das ich mir für diesen Anlass zugelegt habe, auf eine angemessenere Länge. Mein Gefühl sagt mir, dass ich für den neuen Auftrag mehr stilvolle Garderobe brauchen werde. Wie gut, dass mein Lieblings-Vintage-Shop in Notting Hill bestens mit Luxuskleidern ausgestattet ist, die ein Bruchteil von dem kosten, was das Label vermuten lässt. Warum Frauen viel Geld für ein Kleid ausgeben, das sie dann nicht tragen, werde ich nie verstehen.
Nick an meiner Seite pfeift leise durch die Zähne. „Hier stinkt es nach Geld. Wir sind genau richtig. Das ist Ashtons Welt.“
Irritiert sehe ich ihn an. „Ich dachte, du kennst ihn persönlich. Weshalb der abfällige Tonfall?“
Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelt sich seine Miene. In der nächsten setzt Nick das spöttische Lächeln auf, das ich von ihm gewohnt bin. „Selbstverständlich kenne ich ihn persönlich. Die Welt des englischen Adels ist klein. Ich war mit ihm zusammen am Eton College und später dann in Oxford.“
„Er war auch in Eton? Der renommiertesten Privatschule Englands?“
Er hält, irritiert über meine Frage, inne. Dann zuckt er mit den Schultern. „Wo soll er denn sonst gewesen sein?“
Seine Antwort verschlägt mir die Sprache. Klar, Eton. Wo soll er sonst gewesen sein?Ich erinnere mich an meine eigene triste Schulzeit auf der staatlichen Schule. Eine Zeit, in der ich am liebsten unter dem Radar verschwunden bin, obwohl ich nicht die Einzige war, deren Vater im Knast war.
Nick scheint von meinen trüben Erinnerungen nichts mitzubekommen. „Wir haben uns aus den Augen verloren, und ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen.“ Eine fast unmerkliche Schärfe liegt in seinen Worten, die mich hellhörig werden lässt.
„Und, traust du ihm die Tat zu?“
Nick kneift die Augen zusammen. „Einen Gemäldediebstahl?“
Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu und sehe mich um, ob ihn jemand gehört hat. Doch keiner scheint uns Beachtung zu schenken. Er versinkt einen Moment in Gedanken. Dann schüttelt er den Kopf. „Das nicht, nein. Ashton mag vieles sein, allen voran ein ziemliches Arschloch, aber er ist kein Krimineller. Zumindest damals nicht. Warum sollte er alles aufs Spiel setzen? Da er so reich ist, hat Lord Arschlochdas Bild wahrscheinlich nicht gestohlen, und unser chinesischer Auftraggeber ist auf dem falschen Dampfer.“
Ich verdrehe die Augen bei seinem unmöglichen Spitznamen für unsere Zielperson. „Könntest du bitte deine Vorbehalte gegenüber Lord Ashton heute Abend einmal vergessen?“ Ich unterdrücke den Impuls, ihm den Ellenbogen in die Seite zu hauen, und ziehe ihn von der Tür fort.
„Es gab eine Geschichte mit meiner Schwester. Da gibt es nichts zu vergessen“, murmelt er mit düsterer Miene.
Ein paar Köpfe haben sich neugierig in unsere Richtung gedreht und schätzen offensichtlich ab, ob wir wichtig sind. „Los, wir mischen uns unters Volk.“ Nick lässt meinen Arm los.
„Hast du Ashton schon entdeckt?“ Mit meinen knapp 1,70 m habe ich trotz der High Heels heute nicht so viel Überblick wie mein hochgewachsener Partner. In dem dunklen Anzug und mit dem nach hinten gegelten dunkelblonden Haar zieht er die Blicke der Damen auf sich. Wenn die wüssten, dass er sich während der Arbeit kaum von seiner heiß geliebten abgewetzten Lederjacke trennen kann. Obwohl unsere Agentur modern und hoch technisiert ist, gehört für Nick zu einem echten Detektiv eine Lederjacke. Klischee eben.
Er kneift die Augen zusammen und scannt die Gäste. „Nein. Er zählt vermutlich im Hinterzimmer die Einnahmen.“
Ich grinse. Diese Bemerkung ist so typisch für Nick. Obwohl er aus einer wohlhabenden Familie kommt, verachtet er zur Schau gestellten Reichtum. Selbst ich habe erst zwei Jahre nach unserem Kennenlernen herausgefunden, dass Geldprobleme für ihn kein Thema sind und er sogar Anrecht auf einen Adelstitel hätte.
„Champagner für Sie, Sir?“
Nicks Gesicht hellt sich auf, als er zwei Champagnerflöten von dem Silbertablett nimmt, das ihm eine schmale Blondine auffordernd hinhält. Er zwinkert ihr zu, doch ihre Miene bleibt unbewegt, und sie wendet sich bereits dem nächsten Gast zu.
„Deine Flirtkunst war schon immer flach, Sir“, ziehe ich ihn auf und nehme einen Schluck des prickelnden Goldes.
„Du willst nur nicht zugeben, dass du mir insgeheim verfallen bist“, flüstert Nick mir in den Nacken und legt seine Hand in mein Kreuz. Nein, tiefer als das Kreuz. Mit einem strafenden Blick weise ich ihn in die Schranken. Und das tue ich nicht nur, weil ich befürchte, er könnte meine Lovehandlesspüren. Meine üppigen Hüften sind durch den tulpenförmigen Schnitt des Kleides bestens in Szene gesetzt. Gelassen grinsend nimmt er die Hand fort und gibt vor, das nächste Kunstwerk zu bestaunen. Alter Schwerenöter! So sehr ich auch die Augen über Nicks Sprüche verdrehe, so sehr genieße ich seine Aufmerksamkeit. Schließlich liegt mein Liebesleben seit einer Weile brach. Der Aufbau der Ermittlungsagentur vor einem Jahr lässt mir keine Zeit für Dates.
Skeptisch blicke ich mich um. Diese Vernissage ist nicht zu vergleichen mit den Ausstellungen der Abgänger der Kunsthochschule, die ich sonst besuche oder den Eröffnungen von Sonderschauen in den Londoner Museen. Alles ist perfekt durchgestylt, und Geld scheint keine Rolle zu spielen. In einer abgeschiedenen Ecke frage ich ihn leise: „Du bist dir sicher, dass der Aufraggeber sich nicht geirrt hat? Er meint wirklich, Lord JacobAshton habe sein Bild? Der Kerl, der fast so reich wie die Windsors ist, derKunstsammler und Mäzen ist und in vielen wichtigen Städten dieser Welt Galerien betreibt?“ Ich mache eine umfassende Geste, die den Raum, in dem wir uns befinden, einschließt.
Nick nippt ungeduldig an seinem Drink. „Du hast die Sprachnachricht doch selbst gehört. Alles Weitere werden wir morgen von dem chinesischen Kontaktmann erfahren. Das klingt wie derAuftrag, Liv“, flüstert Nick und lässt seine Fingerkuppen aufgeregt gegen sein Glas trommeln.
Ich seufze. Ich habe Lord Ashton selbstverständlich gegoogelt. Die Anzahl der Treffer zum dreißigjährigen Ashton, der laut Wikipedia mit vollem Namen Jacob Arthur Luis Graham, Earl of Ashton, Baron Carrigan heißt – und nach dem Tod seines Vaters wird er Anspruch auf weitere Titel haben – hat Nick zu dem für ihn typischen leisen Pfeifen veranlasst. „Da hat sich jemand offensichtlich entwickelt seit der Schulzeit. Damals war er nur im Umgang mit Frauen umtriebig.“
Die Google-Suche wies uns auf die Ausstellungseröffnung heute Abend hin. Wenn das kein gutes Timing war.
„Meinst du, wir kommen da rein?“
Nick zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Wenn es weiter nichts ist“, antwortete er schmunzelnd und wählte bereits einen Kontakt in seinem Smartphone an. Ein guter Start!
Interessiert schlendern wir von Bild zu Bild. Staunend weise ich Nick auf Details der Exponate hin. „Wow. Aus der Distanz betrachtet wirken die Bilder fotorealistisch – erst aus der Nähe werden ornamentale Strukturierung und surreale Partien sichtbar. Siehst du?“
Er verdreht die Augen. Wie immer, wenn ich ins Fachchinesisch verfalle.
„Warum sagst du nicht einfach: ‚Es ist toll!’?“
„Banause“, bemerke ich trocken.
„Deswegen sind wir doch ein unschlagbares Team. Du übernimmst die Kunst, ich bin der Mann fürs Grobe.“
Ich grinse, weil er recht hat. Nick kümmert sich eher um Fälle von Industriespionage, um Betrugsfälle und um Überwachungen. Vielleicht wird der neue Auftrag ihn dazu bringen, meine Begeisterung für Kunst zu teilen. Denn das könnte unser Durchbruch in diesem Bereich sein.
„Wie war noch einmal deineTheorie, weshalb ausgerechnet der stinkreiche Ashton ein Bild stehlen könnte, anstatt es sich zu kaufen?“ Nick deutet mit dem Kinn auf die saftigen Preise, die bei den Bildern ausgeschildert sind und neben denen sich in den meisten Fällen bereits rote Punkte befinden. Bereits vor der offiziellen Eröffnung scheinen die meisten Gemälde verkauft zu sein. Wahnsinn!
„Ich habe dir doch von dem Film „Die Thomas Crown Affäre“ vorgeschwärmt“, erwidere ich und trete einen Schritt zurück, um das Bild besser auf mich wirken zu lassen.
„Sorry, ich steh eher auf Action-Filme. Muss ich mir den für den Auftrag ansehen?“
Ich zucke mit den Achseln. „Nicht unbedingt. Dort geht es um einen Millionär, der aus reiner Langeweile auf der Suche nach Nervenkitzel Kunst stiehlt.“
„Und du meinst, bei Jacob ist es genauso? Ein Milliardär“, verbessert er mich, „der Hunderte von Kunstwerken besitzt, stiehlt ausgerechnet das Bild eines Chinesen? Für den Kick?“
„Das herauszufinden, ist unser Job.“
Er mustert einige Herren in Smokings in der Nähe, die sich intensiv über die Runde Golf am vergangenen Wochenende unterhalten. Nicks Mimik wirkt, als habe er Zahnschmerzen. Er schnappt sich eine weitere Champagnerflöte und ignoriert meinen tadelnden Blick.
„Ich kann auch mit zwei Promille schießen“, flüstert er mir ins Ohr.
„Solange du dann triffst, sage ich nichts“, kontere ich und grinse bei seiner irritierten Miene. „Zur Not bin ich ja noch da.“ Ich hebe meine Handtasche, in der ich immer eine Glock 19 trage. Nick besteht darauf. Wenn es sich vermeiden lässt, benutze ich die Waffe nicht.
„Ich mische mich unter die Leute. Vielleicht finde ich etwas heraus.“
Bevor ich antworten kann, ist er in der Menge verschwunden. Mir soll es recht sein. Unauffällig schaue ich mich nach dem adeligen Gastgeber um. Aus meiner Google-Recherche weiß ich, wie er aussieht. Die Bilder im Internet zeigen ihn auf wichtigen Events der weltweiten Kunstszene. Die Klatschzeitungen bezeichnen ihn als begehrtesten Junggesellen Englands. Ich bin ein wenig nervös. Dieser Lord ist attraktiv, wenn man auf arrogante Schnösel in Smokings steht, was ich ganz und gar nicht tue. Er hat etwas von Clark Kent in Superman. Das dunkle Haar streng zurückgekämmt. Die dicke Nerdbrille scheint ideal auf seinen kantigen Kiefer und die breiten Schultern abgestimmt. Ich habe nie begriffen, warum Lois Lane die Einzige war, die sich von Superman hat täuschen lassen, nur, weil er eine solche Brille trägt. Ashtons gebändigte männliche Ausstrahlung lässt mich kalt. Was mein Herz allerdings dazu bringt, erwartungsvoll zu schlagen, ist der Kunstverstand, der ihm nachgesagt wird. Das ist das Einzige, was ich an diesem Typen sexy finde. Ich interessiere mich nicht für das Geld anderer, und britischer Adel kann mir gestohlen bleiben. Aber mit Kunst hat mich bislang jeder Mann rumgekriegt. Einer der Gründe, weshalb Nicks beharrliche Anmachversuche an mir abperlen. Obwohl er gut aussieht und intelligent ist, sind die einzigen Farben, für die er sich interessiert, Autolackierungen. Bei Autos vergisst Nick seine Abneigung gegen den Reichtum, der ihm in die Wiege gefallen ist.
Bis ich Ashton finde, werde ich ein wenig die ausgestellte Kunst genießen. Dazu gönne ich mir Häppchen der vorbeifliegenden Tabletts. Seit dem Frühstück hatte ich keine Zeit, etwas zu mir zu nehmen, und nach dem Glas Champagner ist mir leicht schwindelig. Keine guten Voraussetzungen für konzentriertes Arbeiten. Urgh! Was ist das denn? Schmeckt nach Fisch und Salz. Ich tippe auf Kaviar. Fischeier. Würg!Angewidert versuche ich, den Brocken ohne zu kauen hinunterzuschlucken.
„Hier, nehmen Sie das.“ Eine leise Stimme, nah an meinem Ohr, erschreckt mich zu Tode. Eine Hand mit einem Stofftaschentuch erscheint in meinem Blickfeld. Gesäumt von einer blütenweißen Manschette, in der ein edel aussehender Knopf steckt. Als wäre es nicht peinlich genug, eklige Fischeier unbemerkt hinunterschlucken zu müssen, wird die Demütigung perfekt, als ich mich vor Schreck verschlucke. Ich greife nach dem Stofftaschentuch, wer zum Teufel hat so etwas heutzutage?, und halte es mir vor den Mund. Eine Hand schlägt mir kräftig auf den Rücken. Der Hustenanfall treibt Tränen in meine Augen, und ich möchte vor Scham am liebsten im Boden versinken. Ein Spaghettiträger rutscht meine Schulter hinab. Ich bin zu beschäftigt, zu überleben, als mich darum zu sorgen. Als das Schlimmste vorbei ist und ich mir einbilde, das Getuschel in meinem Umfeld verdichtet sich zu einem unerträglichen Level, reiche ich dem anonymen Helfer das Taschentuch zurück. Da erst bemerke ich, dass das edle Leinen mit Lippenstift und Krümeln verschmiert ist. Ich schließe kurz die Augen.
„Behalten Sie es bitte“, sagt die amüsierte Stimme.
Kopf hoch, Liv, du hast schon schlimmere Situationen gemeistert.Ich hebe den Blick, und das Entsetzen nimmt eine neue Dimension an. War ja klar, dass ausgerechnet Lord Ashton persönlich mein Galan ist. Warum nicht gleich Prinz Harry?
Sofort senke ich den Blick und entdecke ein eingesticktes Monogramm. Ich rolle das Taschentuch zusammen und stopfe es in meine Clutch. Hat er mir wirklich gerade auf den Rücken geschlagen?
„Danke“, murmle ich.
„Gefällt Ihnen die Ausstellung?“ Sein Blick huscht zu meiner nackten Schulter, und er öffnet leicht die Lippen, bevor er mir mit höflich interessierter Miene wieder in die Augen blickt. Sofort schiebe ich den Spaghettiträger an Ort und Stelle. Ich schlucke und muss verarbeiten, dass Jacob Ashton mit mir Small Talk hält. Hier sind viele wichtige Leute anwesend. Ein Glücksfall, dass er sich mit mir abgibt. Ich mustere ihn eingehend. Er verströmt eine selbstbewusste Aura, die live stärker ist als auf den Fotos im Netz. Er ist nicht klassisch schön. Dafür ist seine Nase zu markant, offensichtlich einmal gebrochen, und die Augen zu intensiv. Wie glühende Kohlen. Das schwarze glatte Haar, an den Seiten kurz gestutzt, fällt in längeren Strähnen in die Stirn. Das Kinn ist glattrasiert. Der Mund wäre schön, wenn nicht ein angestrengter Zug um ihn läge. Mein Plan war, ihn aus der Ferne zu beobachten. Diese Nähe ist glückliche Fügung, und ich sollte mich zusammenreißen und Professionalität zeigen.
„Ja, Lord Ashton. Ich bin begeistert von den Bildern des Schotten. Colin Hamilton hat es geschafft, mit großer Leuchtkraft und Lebendigkeit der Farben eine einzigartige Atmosphäre zu schaffen. Beim näheren Hinsehen spürt man in einzelnen Details eine feine Ironie.“ O Mann, ich höre mich an wie ein Lehrbuch in Kunstgeschichte. Impulsiv setze ich nach: „Die Bilder sind toll.“ Ich halte die Luft an. Geht es noch peinlicher?
Ein Schmunzeln umspielt seine Mundwinkel. „Sie haben recht, sie sind toll. Ich habe den Künstler nicht ohne Grund ausgestellt.“ Er neigt den Kopf und mustert mich in einer eindringlichen Art, die meine Haut prickeln lässt. Als wolle er hinter meine höfliche Fassade blicken. Ich fühle mich wie in einem Nacktscanner am Flughafen. „Sie sind offensichtlich vom Fach. Darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe? Künstlerin oder Sammlerin?“
Ich schlucke einen aufgeregten Kloß im Hals hinunter. Jacob Ashton ist tatsächlich an meiner Meinung interessiert!Das läuft besser als gedacht.
Vor Aufregung stranguliere ich die Clutch in der Hand. Als ich die Härte der Waffe darin ertaste, höre ich sofort auf. Mein Blick huscht umher. Wo zum Teufel ist Nick? Keine Spur von ihm. Vermutlich schäkert er mit einer Bedienung oder einer High-Society-Lady. Ich halte Ashton die Hand hin. Er starrt sie an und irritiert mich damit einen Moment. Reicht man sich zu diesem Anlass nicht die Hand? Oder muss der Impuls von ihm ausgehen? Ich hätte besser recherchieren und mit meiner Freundin Sara nochmals üben sollen. Sie hat mir schon einige wertvolle Benimmregeln im Umgang mit der Upper Classbeigebracht.
„Heart. Olivia Heart.“ Mist, diese James-Bond-Nummer wollte ich mir abgewöhnen. Nicht, dass er Verdacht schöpft. Seine Miene bleibt unbewegt. Cool fahre ich fort: „Weder noch. Ich interessiere mich lediglich für Kunst. How do you do, Lord Ashton? Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen. Eine wunderbare Ausstellung.“ Wie gut, dass wir Engländer berühmt für unsere steifen Begrüßungen sind. Da fällt meine Flucht in Floskeln nicht auf, oder? Er ergreift meine Hand und drückt sie leicht. Seine Finger sind warm, und mir fällt auf, wie eiskalt meine eigenen sind. Sein Daumen streicht kurz über meinen Handrücken, bevor er sie loslässt. Oder habe ich mir das eingebildet?
Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen. In diesem Moment tippt ihm eine streng aussehende ältere Dame auf die Schulter.
„Verzeihen Sie, Lord Ashton, es ist Zeit.“
Er nickt knapp und lächelt mich entschuldigend an. Dieses Lächeln kommt unerwartet und verändert seine Ausstrahlung so unmittelbar von unnahbar in charmant, dass mir der Atem stockt.
„Ich hätte gern mit Ihnen geplaudert … MissHeart?“ An der Art, wie sich seine Pupillen weiten, erkenne ich die stille Frage, die hier mitschwingt. Dass er wissen möchte, ob ich verheiratet bin, löst eine innere Unruhe in mir aus. Ich nicke und meine, etwas wie Freude über seine Miene huschen zu sehen. Flirte ich gerade mit dem begehrtesten Junggesellen Englands?Ich ermahne mich zur Besonnenheit. Schließlich ist er unsere Zielperson.
„Gerade ist leider ein ungünstiger Zeitpunkt.“ Mit einem kurzen Nicken wendet er sich ab und folgt der Dame.
Ich schaue ihm hinterher und verliere mich in seinem eleganten Gang. Von der Seite tritt plötzlich eine wunderschöne Asiatin auf ihn zu und legt ihm die Hand auf den Arm. Ich kann nur das Gesicht der Frau sehen, Ashton steht mit dem Rücken zu mir. Aufgrund ihrer Mimik handelt es sich offensichtlich um keine angenehme Unterhaltung. Ashtons abwehrende Haltung verstärkt diesen Eindruck. Ihr anfangs hoffnungsvolles Gesicht sackt innerhalb von Sekunden in sich zusammen, als er ihren Arm von sich wischt. Ich meine, ihn zischen zu hören, aber das kann in dem mich umgebenden Stimmengemurmel täuschen. Ein blonder Mann tritt zu den beiden. Sein durchtrainierter Körper sprengt fast den Anzug. Man sieht ihm an, dass er seine Zeit lieber in Sportklamotten verbringt. Aha, der Lord hat einen Personenschützer. Auf seine wortlose Frage hin schüttelt Ashton den Kopf. Der Blonde zieht sich diskret zurück. Und auch die Asiatin tritt mit gesenktem Kopf den Rückzug an. Sekunden später ist alles vorbei. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Eine Chinesin, und je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass sie eine ist, bei Lord Ashton? Unser Auftraggeber ist Chinese. Ist das ein Zufall?
Kurz darauf betritt Ashton zusammen mit dem Künstler Colin Hamilton unter dezentem Applaus ein Podest und hält die Begrüßungsansprache. Die beiden Männer sind ein heißes Gespann. Ich erinnere mich, dass Colin Hamilton der Bruder eines Hollywoodstars ist. Wenn der nur halb so gut aussieht wie der Künstler, wundert mich das nicht.
Ashton ist ein souveräner Redner, dessen charmante Art besonders die Damen im Raum, zu denen ich definitiv gehöre, in den Bann zieht.
„Das hat besser geklappt als gedacht“, flüstert Nick mir ins Ohr.
Zum zweiten Mal an diesem Abend zucke ich zusammen, weil ich damit nicht gerechnet habe. „Wo warst du, verflucht? Ich bin hier fast erstickt.“
Nick grinst. „Mir war klar, dass wir mehr Erfolg haben, wenn ich dich allein lasse. Dieses Kleid ist megaheiß. Und Ashton war nie ein Kostverächter.“
„Soll das heißen, ich war ein Köder?“
Sein Grinsen verstärkt sich. „Warum nicht? Solange es wirkt? Der Erstkontakt ist hergestellt. Aufgrund seinerInitiative. Die beste Möglichkeit, keinen Verdacht zu schüren. Dann können wir gehen?“
Ich schaue mich suchend um, denn ich will Nick die Chinesin zeigen. Aber sie ist verschwunden. „Hast du die Chinesin gesehen?“
Nicks Miene ist ausdruckslos. „Nein, aber im hinteren Teil der Ausstellung war eine verflucht hübsche Inderin. Dieser rote Punkt zwischen den Brauen …“
Ungeduldig unterbreche ich ihn. „Willst du Ashton nicht wenigstens kurz begrüßen?“
„Kein Bedarf. Außerdem werde ich ihn sicherlich früh genug treffen. Lass uns verschwinden.“
Obwohl ich aus unerfindlichen Gründen gern geblieben wäre, nicke ich. Instinktiv weiß ich, dass man Ashton am besten einfängt, wenn man sich rarmacht. Nick legt seine Hand auf mein Kreuz und schiebt mich zum Ausgang. In dem Moment brandet Applaus auf. Die Rede ist zu Ende. Wie magnetisch angezogen schaue ich zur Bühne und treffe auf Jacob Ashtons Blick. Die glühenden Kohlen seiner Augen sind auf Nick gerichtet. Von der charmanten Ausstrahlung von zuvor ist nichts zu spüren. Wenn Blicke töten könnten, müsste Nick neben mir zusammensacken. Ein eiskalter Schauder überläuft meinen Rücken. Nick scheint Ashtons Blick zu spüren, denn die Hand an meinem Kreuz verspannt sich. Ohne die Augen vom Ausgang zu wenden, schiebt er mich durch die Tür.
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Montgomery & Heart
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Den Träger mit drei Kaffeebechern und meine Aktentasche balancierend, gleichzeitig das Smartphone zwischen Ohr und Schulter geklemmt, öffne ich mit der Seite die Tür zur Agentur. Heute war ich an der Reihe, die morgendliche Runde im Coffeeshop um die Ecke abzuholen. Skyler eilt mir entgegen und nimmt mir Kaffee und Aktentasche ab. Dankbar nicke ich ihr zu. Sie öffnet den Mund, doch ich hebe den Finger und bitte sie um eine Minute Geduld.
„Mom, natürlich komme ich heute Abend. Bin ich jemals nicht gekommen? Ich bin jetzt in der Agentur und muss Schluss machen.“ Meine Mutter findet, wie so oft, kein Ende. Ich schließe die Augen und lausche geduldig, ein Seufzen unterdrückend. Als ich die Augen wieder öffne, hebt Skyler bedeutungsvoll die Brauen und deutet mit dem Kopf in Richtung Besprechungszimmer.
„Er ist schon da“, flüstert sie.
Was? Mein Blick huscht zur Uhr. Der Ermittler war erst in zwei Stunden angesagt.
„Mom, bis heute Abend.“ Ich lege auf und weiß, dass ich mir beim Dinner eine Standpauke anhören muss, wie unhöflich das ist. „Ist Nick schon da?“
„Ja, zum Glück. Sonst hätte ich allein mit ihm Zeit verbringen müssen.“
„Huch, so ein Unsympath?“, frage ich sie.
Unsere Assistentin hebt den Finger an die gespitzten Lippen. Dabei fällt mir auf, dass sie den pinken Nagellack mit kleinen Pandabär-Aufklebern geschmückt hat. Die rosa gefärbten Spitzen ihres ansonsten schwarzen Bobs fallen ihr über die Wangen. Skyler liebt Mangas. In ihrer Freizeit lebt sie Cosplay und steht auf Plüschkostüme und rosa Schnürstiefel. Zum Glück hält sie sich in der Agentur zurück und trägt das konservative Büro-Outfit, um das ich sie bei der Einstellung gebeten habe. Nick hat mich merkwürdig angesehen, als ich ihm begeistert erzählt habe, ich hätte die perfekte Assistentinfür uns gefunden. Skylers herausragende Intelligenz offenbart sich erst auf den zweiten Blick. Was für unsere Ermittlungstätigkeit Gold wert ist, sind ihre Computerkünste. Erst nachdem sie zwei Monate bei uns tätig war, hat sie mir nach ein paar Tequila-Shots gestanden, unter dem Nicknamen AnimeSin der Hackerszene bekannt zu sein. Nick war von Beginn an eher schroff zu ihr. Was mich wundert. Schließlich liebt er es, den Charming-Sonnyboy zu mimen. Und sie ist nicht unansehnlich. Was das wieder für eine Laune von ihm ist?
„Er ist eher chinesisch“, lautet ihr Urteil, und ich grinse.
„Ich dachte, du stehst auf den asiatischen Touch?“, frage ich und sie lacht. Nachdem ich mir an einem Schluck Kaffee fast die Zunge verbrenne, öffne ich die Tür zum Besprechungszimmer. Der Gast sitzt mit dem Rücken zu mir. Vor ihm das Panorama der Londoner Innenstadt, auf das der Raum ausgerichtet ist. Jedes Mal, wenn ich die Kuppel der St. Paul’s Cathedral vor dem glitzernden Wolkenkratzer Gherkin– das Gürkchen – sehe, hüpft mein Herz vor Stolz. Ich liebe meine Heimatstadt und finde es unglaublich, wie modern sie seit der Jahrtausendwende geworden ist. Und unsere Agentur ist mittendrin! Nick hebt den Kopf, und ich sehe ihm die Erleichterung an, Verstärkung zu haben. Ich durchquere den Raum und strecke dem chinesischen Ermittler die Hand entgegen.
„Ni hao, Mister Zhao, mein Name ist Olivia Heart.“
Stechende Augen richten sich auf die Hand, als wäre sie eine giftige Schlange. Was ist in letzter Zeit mit den Leuten los?
Innerlich gebe ich Skyler recht. Dieser Typ sieht aus, wie ich mir einen Chinesen vorstelle. Es liegt vielleicht daran, dass er das perfekte Abbild von Mao Tse Tungist. Die gleiche Massigkeit, gleiche Haarlinie, eine graue uniformartige Jacke und ein unbewegter Gesichtsausdruck. Aber Mao hatte nicht diesen stechenden Blick, der mir einen Schauder über den Rücken laufen lässt. Ein undurchschaubarer Typ. Er ignoriert die Hand und nickt leicht. Mir soll es egal sein. Meinen Laptop öffnend, nehme ich neben Nick Platz.
„Du kommst genau richtig. Mister Zhao wollte gerade über das Bild reden“, sagt Nick und schiebt mir ein Foto zu.
Mit gerunzelter Stirn vertiefe ich mich in das Motiv des Ölgemäldes. Impressionismusist das Erste, was mir in den Sinn kommt. Abgebildet ist eine dunkelhaarige Frau, die mit dem Rücken zum Betrachter an einer geöffneten Tür steht. Ihr Körper ist leicht zur Seite gedreht, sodass man die Umrisse ihres Profils und ihres Körpers halb erahnen kann. Sie schaut verträumt auf eine Seenlandschaft vor dem Haus. Es ist ein Sommertag. Der blaue Himmel ist von wenigen Wolken durchzogen, und am Ufer des Sees blitzen Birken in der Sonne. Bis auf ein hellblaues Badetuch, das ihr locker um die Hüfte liegt, und das sie mit abgewinkelten Armen vor dem Körper zusammenrafft, ist sie nackt. Ihr schwerer, dunkler Zopf liegt zwischen den Schulterblättern. Das Hinterteil der Frau ist üppig, und die Kurven ihres Hinterns und der Schenkel sind nur notdürftig von dem Tuch bedeckt. Ihre straffen, mädchenhaften Brüste liegen frei. Die durch die Armhaltung betonte Schwellung ihres Busens und die unter dem Tuch hervorblitzende helle Haut, die im Kontrast zum dunklen Haar steht, geben dem Bild eine sinnliche Komponente. Obwohl es sich um eine Fotografie des Originals handelt, bin ich sofort von der intimen Stimmung des Motivs eingenommen. Ich schätze den Entstehungszeitpunkt des Gemäldes auf Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Pinselführung ist außergewöhnlich stimmig. Die Konturen sind einen Hauch verwischt. Mir kommt ein Gedanke, den ich sofort wieder verwerfe. Das kann nicht sein.
„Das ist eine klassische Badende. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich auf Renoir tippen.“
Die Augen des Chinesen zeigen zum ersten Mal eine Regung. Soll das Anerkennung ausdrücken? „Es ist ein Renoir“, bestätigt er.
Ich schüttle den Kopf. Ich weiß alles über den Meister des Impressionismus. Hier muss ein Irrtum vorliegen. „Ich habe meine Abschlussarbeit über den Künstler Renoir geschrieben. Ich würde dieses Bild kennen, wenn es ein Renoir wäre. Es ist in keinem mir bekannten Verzeichnis vermerkt.“
Der Chinese runzelt die Stirn, und es fällt ihm sichtlich schwer, seine Ungeduld zu verbergen. Er hat die Frechheit, Nicks Blick zu suchen, als würde er sich bei ihm über die trotzige Frau beklagen wollen. „Glauben Sie mir, es istein Renoir.“
Nick legt mir beruhigend die Hand auf den Arm. Er kennt mein aufbrausendes Temperament. „Gehen wir davon aus, dass es sich tatsächlich um ein Gemälde von Renoir handelt“, sagt er und drückt zu, „warum ist es nicht verzeichnet?“
„Es stammt aus Privatbesitz und ist nie Gegenstand einer Auktion gewesen.“
Ich grüble über seine Worte nach. „Wie kam es nach China? Das ist äußerst ungewöhnlich, finden Sie nicht?“, frage ich.
Mister Zhao kneift fast unmerklich die Augen zusammen. „Das soll nicht Ihr Problem sein“, erwidert er schroff.
Nicks Griff an meinem Arm verstärkt sich.
„Wie kommen Sie auf die Idee, dass ausgerechnet Lord Ashton es hat?“, bohre ich nach.
„Glauben Sie mir, es ist so.“
Aha. Dieses unergründliche Getue geht mir langsam auf den Keks. Ich sehne mich nach Fakten. Schließlich haben wir einen Ruf zu verlieren und können Ashton nicht mit haltlosen Beschuldigungen konfrontieren.
„Waren Sie bei der Polizei?“
„Mein Auftraggeber erwartet höchste Diskretion. Lord Ashton ist eine prominente Persönlichkeit. Die Polizei wird unter keinen Umständen involviert.“
„Aber …“
Nick unterbricht mich. „Wie dem auch sei. Wie viel ist das Bild wert?“
Der Chinese, der mich mit seinen scharfen Augen fixiert hat, wendet sich Nick zu. „Es ist unbezahlbar.“
Nick stößt ein leises Lachen aus. „Ach, kommen Sie. Geben Sie mir wenigstens eine Hausnummer, anhand der wir unsere Gebühr berechnen können.“
„Es ist unbezahlbar. Mein Auftraggeber bietet Ihnen zwei Millionen Pfund für die Wiederbeschaffung. Hunderttausend als garantierte Anzahlung.“
Nick lässt meinen Arm los und setzt sich aufrechter hin.
„Zwei Millionen Pfund?“ Er betont jede Silbe einzeln und schaut mich ungläubig an.
Die Agentur erhält in der Regel zehn Prozent vom Wert eines Kunstwerkes als Bezahlung für die Wiederbeschaffung. In wenigen Fällen haben wir es mit Bildern zu tun, die zwei Millionen Pfund übersteigen. Im Gegenteil. Die Haupteinnahmequelle im Gründungsjahr waren neben Versicherungsfällen aus Galerien kleinere Aufträge aus der Industrie. Die meisten Bilder stammten von unbekannten Künstlern. Wir konnten diese Aufträge nicht ausschlagen, weil wir uns einen Namen machen wollten. Dies ist uns offenbar gelungen. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Diese Summe durch einen einzigen Auftrag lässt mich sprachlos. Allein die Anzahlung, die wir behalten können, unabhängig davon, ob wir das Bild beschaffen können, ist mehr als großzügig. Sofort denke ich an Evies Reittherapie und daran, dass Mama endlich ihren zweiten Job aufgeben könnte. Meine Geldprobleme wären auf einen Schlag gelöst.
„Ich denke, wir sind im Geschäft, Mister Zhao“, spricht Nick meine Gedanken aus.
Ich nicke, das leichte Unbehagen, das ich verspüre, mit einem höflichen Lächeln niederkämpfend.
„Liv, dass du mal zu früh bist. Ist etwas geschehen?“ Besorgt unterbricht meine Mom die Zubereitung des Dinners und streicht sich eine graue Strähne aus dem Gesicht. Sie sieht erschöpft aus. Das ist kein Wunder. Seit David, mein Stiefvater, seinen Job vor zwei Jahren verloren hat, arbeitet Mom frühmorgens bei einem Callcenter für eine Kreditkartenfirma aus Übersee. Wenn sie dort fertig ist, macht sie meine Schwester Evie parat für die Schule und schaut, dass der Faulpelz Ben, mein Bruder, den Weg aus dem Bett findet. Danach geht sie in das Büro des Anwalts, wo sie schon immer als Sekretärin gearbeitet hat. Wenn sie um fünf Uhr Feierabend hat, warten die üblichen Aufgaben einer Hausfrau auf sie. David, der den ganzen Tag zu Hause ist, rührt keinen Finger. Und das bringt mich auf die Palme. Ich konnte ihm nie etwas abgewinnen. Meiner Ansicht nach wäre sie ohne ihn besser dran. Das kann auch daran liegen, dass ich die ersten fünf Lebensjahre allein mit meiner Mom verbracht habe. Mein leiblicher Vater war zu der Zeit im Knast. Als sich meine Mutter in David verliebte, konnte ich es schwer ertragen, dass er ihre Aufmerksamkeit, die mir bis dahin ganz allein gehörte, von mir nahm. David war früher nicht so schlimm. Ich habe ihm nur keine Chance gegeben. Das einzig Gute, was in meinen Augen von ihm kam, sind meine beiden Halbgeschwister. Nun ist es zu spät, als dass David und ich zueinanderfinden. Daran habe ich auch kein Interesse, so unmöglich, wie er sich benimmt. Ein echter Macho. Vor allem bin ich von meiner Mutter enttäuscht, dass sie nicht erkennt, wie David sich von ihr bedienen lässt, obwohl siedas Geld zum Leben verdient. Und dieses Geld reicht vorn und hinten nicht. Denn David kam auf die glorreiche Idee, ein Haus in einem Londoner Vorort zu erwerben. Zugegeben, da war er als Autohändler erfolgreich und konnte nicht ahnen, dass das Unternehmen kurz darauf dichtmachen musste. Die monatlichen Abzahlungen der Hypothek sind höher als die Miete für eine völlig ausreichende Vierzimmerwohnung. Aber David möchte das Haus nicht aufgeben. Also möchte Mom es auch nicht.
„Versteh doch, er hat nur das. Es geht ihm nicht gut, seit er den Job verloren hat. Er muss sich erst wieder fangen“, pflegt meine Mutter sein Verhalten zu rechtfertigen.
Heute beiße ich mir auf die Lippe und schlucke meine Wut auf David, vor allem meine Sorge darum, wie lange meine Mom diese Belastung noch durchhält, hinunter. Ich kann es kaum erwarten, die Neuigkeiten über den Auftrag zu überbringen. Ich zücke die Flasche Champagner, die ich auf dem Weg hierhin in meiner Euphorie gekauft habe. Keinen normalen Sekt, echten französischen Champagner.
„Mom, es gibt etwas zu feiern. Ich hole die Gläser.“ Meine Mutter folgt mir ins Wohnzimmer, wo David vor dem Fernseher sitzt und den Sportkanal schaut.
Er kneift die Augen zusammen, als er mich die Sektgläser aus der Vitrine im Essbereich nehmen sieht.
„Olivia hat Champagner, David. Es gibt etwas zu feiern.“
Ich entkorke die Flasche.
David zuckt mit den Schultern. „Sekt ist der feinen Dame wohl nicht gut genug.“
Ich hole tief Luft und lasse den Spruch an mir abperlen. Er hat schließlich nichts dagegen, dass ich monatlich eine dicke Summe zum Haushaltsgeld beisteuere, obwohl ich schon lange nicht mehr hier wohne. Das tue ich nicht für ihn, sondern für Mom und meine Geschwister. Ich halte David versöhnlich ein Glas hin, doch er hat anscheinend keine Lust, aufzustehen und streckt nur die Hand aus. Ich stelle das Glas auf den Tisch. Er soll nicht denken, ich bediene ihn, wenn er nicht einmal mit mir anstoßen möchte. Mom seufzt und bringt David das Glas. Wie sollte es auch anders sein?
„Also, mein Schatz, was gibt es Schönes?“
„Wir haben einen super Auftrag bekommen.“
David schnaubt. Er versteht nicht, was ich mit der Agentur mache. Dass ich meine Festanstellung bei der Polizei aufgegeben habe, ist für ihn ein persönlicher Affront gewesen, und er hat mir in schwärzesten Farben ausgemalt, wie ich scheitern werde. Ich wollte nicht ins Detail gehen, aber Davids Reaktion fordert mich heraus.
„Ein Chinese hat für die Wiederbeschaffung eines Bildes zwei Millionen Pfund geboten.“
Meiner Mutter klappt der Mund auf.
David lacht hämisch. „Hört sich so an, als sähest du von dem Geld keinen Pence.“
„Was willst du damit sagen?“, frage ich ihn.
„Na, wenn die Beschaffung einfach wäre, würde er nicht so viel Geld zahlen. Vermutlich geht euer Auftraggeber selbst nicht davon aus, dass ihr das Bild besorgen könnt.“
Ich beiße mir auf die Lippe. „Immerhin haben wir eine garantierte Anzahlung von einhunderttausend“, sage ich triumphierend.
Anstatt David damit den Wind aus den Segeln zu nehmen, verzieht sich sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Ein Grund mehr, den Auftrag abzulehnen. Wer zahlt schon so viel Geld, ohne etwas in der Hand zu haben?“
Mom wird aufgeregt. „Vielleicht hat David recht. Nicht, dass du dich auf etwas Gefährliches einlässt, Kind.“
Ich verdrehe die Augen. Typisch! Da läuft einmal in meinem Leben etwas gut, und anstatt sich zu freuen, werden nur die negativen Seiten gesehen. Erkennt meine Mutter denn nicht, dass endlich Geld für die teure Reittherapie für Evie da wäre? Und dass sie den Zweitjob an den Nagel hängen kann? Das Summen der Küchenuhr erlöst mich aus diesem unangenehmen Gespräch.
„Der Braten ist fertig. Ruf bitte die Kinder, Olivia. Und dann deckt gemeinsam den Tisch“, ruft meine Mom mir über die Schulter zu, während sie ihr Glas abstellt, von dem sie kaum genippt hat, und in der Küche verschwindet. Natürlich richtet sich die Aufforderung an mich, damit König David seinen Sessel nicht verlassen muss.
„Ich meine es ernst, Olivia. Dieser Auftrag stinkt doch zum Himmel“, sagt David und scheint es aufrichtig zu meinen.
Meine Wut auf ihn ist zu groß, als dass ich darüber nachdenken könnte, ob etwas an seinen Bedenken dran wäre. Ich mache, dass ich die Treppe hochkomme.
Die leicht schräg stehenden Augen meiner vierzehnjährigen Schwester Evie leuchten, als ich an ihre Tür klopfe. Sie ist trotz des Down-Syndroms ein typischer Teenager, der sich am liebsten in ihrem Zimmer verkriecht, das mit Plakaten aus Disney-Serien und von Justin Bieber vollgekleistert ist. Vor Freude, mich zu sehen, drückt sie mich, bis mir die Luft wegbleibt. Evie liebt Essen und springt wenig später die Treppe nach unten.
Bei meinem sechzehnjährigen Bruder Ben ist es schwerer, ihn von dem Playstation-Spiel wegzulocken, in das er versunken ist. Fortnite, seine neueste Sucht. Er wendet kaum den Kopf, als ich die Tür öffne. Sein Zimmer sieht aus, als wäre der Kleiderschrank explodiert, und es müffelt nach verrecktem Tier. Demonstrativ kneife ich mir die Nase mit zwei Fingern zu und hechte zum Fenster. Ben verdreht die Augen.
„Kommst du zum Essen?“
„Gleich.“
„Was heißt gleich?“
„Gleich.“
„Du darfst den Tisch decken“, raune ich ihm zuckersüß zu und nutze seine Irritation, um ihm den Controller zu klauen.
„Spinnst du?“ Er springt auf, und wir rangeln um den Controller. Er ist schon wieder gewachsen und hat auch an Stärke zugenommen, seit ich das letzte Mal mit ihm gekabbelt habe. Unfassbar, was aus dem süßen Baby geworden ist, auf das ich damals als Zehnjährige so stolz war. Triumphierend hält er mir das Teil unter die Nase, als er es mir abgenommen hat.
„Du bist trotzdem dran mit Tischdecken.“
„Kann Dad das nicht machen?“
Ich schlucke meine Ansicht dazu hinunter und schüttle mit dem Kopf. „Los, Mom hat schon allein gekocht. Da ist es das Mindeste, dass wir ihr helfen.“
Hopper erwartet mich, als ich die Tür zu meinem Apartment öffne. „Hey, mein Kleiner. Tut mir leid, wenn ich erst jetzt komme.“ Ich ignoriere den Stapel Post auf dem Flurboden, nehme meinen Kater hoch und vergrabe die Nase in seinem Fell. Seufzend streife ich die Heels ab und lege meine Handtasche auf das kleine Schränkchen unter der Garderobe. Hoppers Schnurren vibriert an meinen Fingerspitzen, die seinen Bauch umspannen. Nachdem ich seine Näpfe aufgefüllt habe, hält es ihn nicht mehr auf dem Arm, und er macht sich schmatzend über das Futter her. Ich gieße mir ein Glas Wasser ein und betrete meinen kleinen Balkon, den ich über alles liebe. Der Blick ist nicht so grandios wie in unserem Büro. Immerhin hat ein unbekannter Street-Artist die hässliche Brandmauer des Nachbargebäudes mit einem großen Porträt bemalt. Ich liebe es, mich darin zu verlieren und immer neue Einzelheiten zu entdecken. Ob es Gott darstellen soll? Oder nur den Großvater des Künstlers? Sollte ich diesen jemals treffen, schulde ich ihm mindestens ein Dinner aus Dank für die Verschönerung meiner Aussicht. Nachdem ich die Pflanzen gegossen habe, durchquere ich das Wohnzimmer und betrete den einzigen anderen Raum des klitzekleinen Apartments. So klein sie auch ist, ich liebe meine Wohnung und wie gemütlich ich es mir in meinem kleinen Nest gemacht habe. Ich werfe mich in Yogapants und Schlabbershirt und hebe anschließend den Stapel Post vom Flurboden. Ich blättere durch die üblichen Rechnungen und sortiere Werbung aus. Bei einem schweren cremefarbenen Umschlag ohne Briefmarke halte ich inne. Stirnrunzelnd mustere ich das dicke Büttenpapier, auf dem mit Tinte mein Name steht. Ein eingestanztes Wappen, das ich nicht kenne, ziert das obere Drittel des Umschlags. Kein Absender. Wahrscheinlich wieder eine Einladung zu einer Hochzeit. Das wäre dann die dritte in diesem Jahr. Alle meine Schulfreundinnen haben offenbar ihren Traummann gefunden, und ich habe nicht einmal ein Date. Seit meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag letzten Monat beschäftigt mich dieses Thema etwas intensiver als davor.
Mit einem Küchenmesser schlitze ich den Brief auf. Schnell wird mir klar, dass dies keine Hochzeitseinladung ist. Selbstbewusste Schrift in royalblauer Tinte lädt mich persönlich kommendes Wochenende nach Ascot zum Pferderennen ein. In den königlichen Bereich. Den königlichen Bereich? Was zum …? Als ich die Unterschrift entziffere, macht mein Herz einen Satz. Jacob Ashton. Ich lasse den Brief sinken. Meine Hand zittert, und ich fühle mich wie ein Schulmädchen, das der Schulschwarm vom gegenüberliegenden Ende des Klassenzimmers angelächelt hat.
Heilige Scheiße! Lord Ashton lädt mich zum Pferderennen ein.
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Royal Ascot
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„Das Ding geht mir auf den Keks.“ Nicht zum ersten Mal in der letzten halben Stunde puste ich die Straußenfeder aus dem Gesicht, die mir in der Nase kitzelt.
Nick grinst. „Tja, wer stilecht sein will, muss leiden. Du siehst fabelhaft aus. Ascot ohne Hut ist wie …“ Er sucht nach Worten, und ich schnaube amüsiert. Sein Gesicht erhellt sich. „Wie Tonic ohne Gin.“ Vor Lachen lege ich die Hand an das Revers seines hellgrauen Cutaways. Nick kann so britisch sein! Wenn einer stilecht zur königlichen Rennwoche nach Ascot geht, dann er. Ich habe Nick beeindruckt gesehen, als ich ihm Jacob Ashtons Einladung unter die Nase gehalten habe.
„Er lädt dich in den königlichenBereich ein? Du weißt, das dürfen nur wenige zutrittsberechtigte Bürgen. Mein Vater zum Beispiel.“ Wie immer, wenn er von ihm spricht, hat sich seine Miene verdüstert.
Stundenlang hat er mir Vorträge darüber gehalten, wie ein echter Morning Dressfür Herren auszusehen hat. Ich blinzle den Zylinder auf Nicks Kopf an. Es ist unbestritten, dass ihm dieses Outfit hervorragend steht. Ich sehe auch nicht übel für den Anlass aus. Meine Freundin Sara hat zum Glück meine Größe und konnte mir ein leuchtend orangerotes Kleid von Alexander McQueen leihen. Nie im Leben hätte ich mir bei meinem rotbraunen Haar diese Farbe ausgesucht. Sara hat mich davon überzeugt, dass diese Vorstellung überholt ist. Letztlich überzeugt hat mich, dass die Farbwahl des britischen Designers ansonsten völlig daneben wäre. Schließlich befinden wir uns im Mutterlandder Rothaarigen. Vielen Briten sieht man die keltischen Wurzeln an. Und mein Porträt könnte man auch in einem Geografiebuch finden, so sehr entspreche ich mit der hellen Haut, der Neigung zu Sommersprossen und der Haarfarbe dem englischen Klischee. Sogar meine Katze ist ein Redhead. Das Kleid kontrastiert hervorragend mit meinen grünen Augen, die ich mit braunem Kajal leicht betont habe. Respektabelendet der Rocksaum genau fünf Zentimeter über dem Knie, und die Schultern sind bedeckt. Zusammen mit den nudefarbenen Heels und dem kecken Hütchen sehe ich aus wie eine Großnichte von Prinz Charles. Wenn nur diese nervige Straußenfeder nicht wäre. Nick pflückt meine Hand von seiner Brust und haucht Küsse auf die Fingerknöchel, bevor ich sie ihm entziehe.
Ich seufze. „Lass uns in den königlichen Bereich gehen.“ Ich zupfe an seinem Ellenbogen, doch er bleibt stehen wie ein störrischer Dackel.
„Sorry, Liv. Ich habe zwar gesagt, ich begleite dich zum Rennen. Aber in den abgesperrten Besucherbereich der königlichen Familie bekommen mich keine zehn Pferde. Es gibt kaum etwas Langweiligeres, als ein Rennen von Snobs umgeben anzuschauen. Das musste ich schon als Kind ertragen. Ich bleibe lieber beim gemeinen Volk.“ Er schielt zu einer Gruppe lachender Frauen, die es sich auf einer Picknickdecke im Bereich der Normalsterblichengemütlich gemacht haben und Nick einladende Blicke zuwerfen. Es ist ein strahlender Sommertag. Die ersten Rennen haben begonnen. Die Kommentare über Lautsprecher untermalen die ausgelassene Freude der Menschen, die das Rennen zelebrieren und einfach nur Spaß haben. Die Stimmung ist ansteckend. Am liebsten würde ich mich auch auf eine Decke niederlassen, Sekt schlürfen, Käsecracker dippen und mich über die Outfits der Upper Classamüsieren. Anstatt ein Teil dieser zu werden.
„Nick! Ich brauche dich!“, versuche ich es noch einmal.
Er legt den Kopf in den Nacken und lacht. „Du machst das schon ohne mich, Liv. Glaub mir, Ashton will nicht, dass ich dich begleite. Außerdem …“, er kratzt sich im Nacken und wirkt mit einem Mal verlegen.
Ich hebe fragend die Brauen.
„Es könnte sein, dass ich Hausverbot für den königlichen Bereich habe. Eine unglückliche Mischung aus zu viel Champagner und jugendlicher Selbstüberschätzung.“
Ich lache auf. Typisch Nick. Er stimmt ein und schüttelt über sein jüngeres Ich den Kopf.
„Ich muss ohnehin gleich los, die Beschattung im Carlton-Fall beginnen.“
„Soll ich diesen Job ganz allein machen?“, murmele ich. Nick tätschelt meine Hüfte. Tiefer wagt er es nicht. Er hat schon mit den Fingerkuppen seine Grenzen überstrapaziert. „Wackle einfach mit deinem Hinterteil und denk an die Ermittlung. Tu es für England.“
Ich schnaube bei seiner Anspielung an die berühmt-berüchtigte Aussage von Queen Victoria. „Wohl eher für China“, murmle ich.
Ich bin ein paar Schritte gegangen, als Nick mich zurückhält. „Heart … dank dir!“
Ich drehe mich um und sehe ihn fragend an.
„Na, wegen Sara.“ Sein sonst verlässliches Schmunzeln ist einem ernsten Ausdruck gewichen. Nur selten offenbart Nick seine verletzliche Seite.
Ich lächle. Nick hat mich gebeten, Sara nichts davon zu erzählen, dass sie mir das Kleid leiht, um Jacob Ashton zu treffen. Seit ich weiß, dass es da in der Vergangenheit einen unschönen Vorfall gegeben haben muss, fühle ich mich meiner Freundin gegenüber wie eine Verräterin. Neugierig, wie ich bin, fällt es mir schwer, sie nicht auszuquetschen und Nicks Wunsch zu respektieren. „Geht schon klar. Vielleicht erzählst du mir bei Gelegenheit, was zwischen den beiden war?“
Nick grinst. Die Ernsthaftigkeit von zuvor ist weg. „Das müsste schon eine sehr intime Gelegenheitsein.“ Er wackelt bedeutungsvoll mit den Augenbrauen.
„Träum weiter, Gigolo.“ Ich weiß, dass er diesen flirtigen Austausch benötigt, um zur Stimmung von zuvor zurückzukehren.
„Und jetzt Action, Liv.“ Sich an die Krempe des Zylinders tippend, steuert er den Getränkeausschank an.
Ich hole tief Luft, nestle Jacobs Schreiben aus meiner Clutch und mache mich auf den Weg zu den Snobs.
Ein rotgesichtiger Kerl mit Melone auf dem Kopf empfängt mich unter dem weißen Eingangsportal zur Royal Enclosure. Er durchsucht meine Clutch, in der sich heute vorausschauend keine Waffe befindet. Nach einem prüfenden Blick auf die Einladung, bei dem ich mir vorkomme wie eine Hochstaplerin, lässt er mich eintreten. Ich gehe ein paar Schritte, bevor ich unschlüssig stehen bleibe. Wie schon in der Galerie, werde ich gemustert. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter den Stirnen rattert, wer ich sei und wie ich zu der Ehre komme, hier zu sein. Der Fakt, dass Jacob Ashton persönlich mich eingeladen hat, lässt mich das Kinn oben halten. Es muss an der Bedeutung des Auftrags liegen, dass ich gleichzeitig zittrige Knie bekomme. In diesem Moment entdecke ich ihn. Er trägt das gleiche Outfit wie Nick. Nur, dass es bei ihm maßgeschneiderter aussieht, so perfekt sitzt der graue Anzug an den schmalen Hüften und breiten Schultern. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch ist und bleibt er ein Snob, rufe ich mir in den Sinn. Sofort sticht mich das schlechte Gewissen. Er hat zwar einen Adelstitel, doch bislang hat Lord Ashton mit keiner Geste zu verstehen gegeben, herablassend zu sein. Warum fühle ich mich besser, ihn in diese Schublade zu packen? Da er in ein Gespräch mit einem älteren Herrn vertieft ist, hat er mich nicht bemerkt, was mir die Gelegenheit bietet, ihn beobachten zu können. Sein Kopf ist dem Gegenüber zugeneigt. Den Zeigefinger hat er ans Kinn gelegt und streicht mit dem Daumen geistesabwesend über die Unterlippe. Er scheint ein aufmerksamer Zuhörer und konzentriert auf die Worte des Herrn zu sein. Die verstohlenen Blicke der Frauen, die enger als notwendig an Jacob vorbeistreifen, entgehen mir nicht. Er hat diese Aura. Eine stille Macht, die von ihm ausgeht. Tja, Adelstitel und Milliardär … eine unwiderstehliche Kombination. Zumindest für die Frau mit dem kupferfarbenen Haar, die es wagt, das Gespräch zu unterbrechen. Sie legt die Hand auf Ashtons Unterarm. Einen kurzen Moment sehe ich Irritation wegen der Unterbrechung über sein Gesicht flackern. Dann nimmt seine Mimik höfliches Interesse an, während er der Frau zwei Begrüßungsküsse auf die Wangen haucht. Die Art, wie sie sich in seinem Arm verkrallt und die Lippen spitzt, zeugt davon, dass sie sich mehr wünscht als diese formelle Begrüßung. Die Fotos aus dem Internet von Ashton und unzähligen Frauen kommen mir in den Sinn. Vielleicht ist sie eine seiner abgelegten Affären? Mir soll es egal sein. Ich konzentriere mich auf den Job.Während Ashton mit der Frau höfliche Worte wechselt, scannt sein Blick die Menge. Als suche er jemanden. Mich?Ich widerstehe dem Drang, mich hinter einem der eleganten Kellner zu verstecken. Zu gern würde ich ihn noch eine Weile beobachten. Bislang kann ich mir nicht vorstellen, dass dieser wohlerzogene Mann Bilder stiehlt. Aber das hat nichts zu sagen. Vermutlich hat er dafür Handlanger. Vielleicht dieselben, die Adressen von Galeriebesucherinnen ausfindig machen und Büttenbriefe zustellen … Er hat mich entdeckt. Seine Augen blitzen auf, und einen Moment fühle ich mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Er lächelt nicht, sondern hält mich aufmerksam im Blick, während er weiter mit der Frau plaudert. Jedes Haar in meinem Körper hat sich aufgestellt. Es kostet mich Kraft, die Augen von ihm zu wenden und ihn nicht anzustarren. Nervös greife ich nach einem Champagnerkelch und halte mich zurück, das Getränk nicht auf Ex zu leeren. Ein weiteres Silbertablett mit Fingerfood schwebt an mir vorbei. Ich überlege, ein Stück zu nehmen, nur damit ich meine Gedanken auf etwas anderes als ihn lenken kann.
„Das sollten Sie sich überlegen, Olivia. Das ist Kaviar“, sagt eine Stimme dicht neben mir, die mich zusammenzucken lässt.
Ich drehe den Kopf, und Lord Ashton steht dicht vor mir. Ich muss das Gesicht anheben, um ihm in die Augen schauen zu können. Wie kann er so schnell bei mir sein? Ich linse an ihm vorbei und begegne dem sauertöpfischen Blick der Frau, die er mitten im Satz stehen gelassen haben muss.
„Schön, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.“
„Ich muss gestehen, ich war neugierig. Man wird nicht alle Tage in den königlichen Bereich eingeladen.“
Seine Augen nehmen einen amüsierten Glanz an, der sie warm erscheinen lässt. Er nimmt mir kein Wort ab.
„Das muss eine Berufskrankheit sein“, stellt er fest und lässt mich sprachlos.
Er weiß nicht nur, wo ich wohne, sondern auch von der Agentur. Und er liebt die direkte Art. Gut, dass ich mit offenen Karten spielen kann. Den hübschen Köder spielen liegt mir nicht. Ich nehme einen Schluck, obwohl mir das Schlucken schwerfällt, so intensiv, wie er mich im Blick hält. Er scheint jede meiner Bewegungen zu studieren. Als ich das Glas abstelle, pendelt die blöde Straußenfeder wieder in mein Blickfeld. Ashton hebt die Hand, verharrt jedoch vor meinem Gesicht.
„Darf ich?“
Ich halte die Luft an und nicke. Was hat er vor? Seine Hand strahlt so nah an meinen Wangen Hitze aus. Aus dem Augenwinkel sehe ich den goldenen Siegelring, auf dem dasselbe Wappen prangt, das auf dem Briefumschlag der Einladung war. Konzentriert fummelt er an meinem Hütchen herum, und aus dieser Nähe sehe ich beginnende Bartstoppeln auf seinem kräftigen Kinn. Wie Jacob Ashton wohl mit Dreitagebart aussieht? Meine Augen richten sich auf den kräftigen Hals, dessen Bräune gegen den weißen Kragen kontrastiert. So nah kann ich einzelne Zellen seiner Haut ausmachen, und der betörende Duft seines Aftershaves steigt mir in die Nase. Konzentrier dich, Olivia! Fieberhaft überlege ich, ob ich ihn direkt auf das Bild ansprechen soll. Als ob er mir eine ehrliche Antwort gäbe! Er nimmt meinen Hut ab und dreht ihn um 180 Grad, bevor er ihn wieder mit Haarklammern befestigt. Ich hätte mir gleich denken sollen, dass die Straußenfeder nach hinten zeigen soll. Ich tröste mich damit, dass es Nick auch nicht aufgefallen ist.
„So, das dürfte weniger nerven.“
Ich lächle ihn an und scheine ihn damit aus dem Konzept zu bringen, denn für den Bruchteil einer Sekunde lässt er die adlige Fassade fallen und wirkt einfach nur wie ein Mann. Ein Mann, der ziemlich nah an einer Frau steht. Ich ignoriere das Flattern in meinem Magen. Er kneift erstaunt die Brauen zusammen, bevor er sich offensichtlich fängt und der etwas distanzierte Ausdruck zurückkehrt.
„Sie sehen übrigens bezaubernd aus. Und das rote Kleid … wie bei einem Bild von Colin Hamilton.“
Ich freue mich über das Kompliment und verstärke mein Lächeln. Nick hat schließlich gesagt, ich soll die Waffen einer Frau einsetzen. Nun lächelt auch er wieder, und für einen Moment vergesse ich, wo wir sind.
Ashton unterbricht den Augenblick. „Wo waren wir stehen geblieben?“ Während er das fragt, umfasst er meinen Ellenbogen und geleitet mich durch die Menge.
Ich fühle den Blick von unzähligen Frauen auf mir. Jacob Ashton scheint davon nichts mitzubekommen. Er nickt automatisch, wenn ihn jemand grüßt, verströmt aber eindeutig die Message, dass er gerade nicht angesprochen werden möchte. Was alle befolgen. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Schließlich lasse auch ich mich gerade ungewöhnlich passiv durch die Gegend ziehen.
„Wir sprachen über meinen Job“, antworte ich ihm, abgelenkt von raffinierten Hutkreationen, denen wir auf dem Weg begegnen.
„Ach ja, kein ungefährlicher Beruf, den Sie sich ausgesucht haben.“
Mein Atem stockt. Ist das eine Drohung?
Wir haben die Tribüne verlassen. An einer Reihe von Glastüren führt er mich am Hauptgebäude vorbei, bis er eine davon öffnet und mich, die Hand in meinem Kreuz, in einen klimatisierten Raum schiebt. Das Stimmengewirr wird durch das Schließen der Tür abgeschnitten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich Jacob durch die Scheibe mit einem Typen im schwarzen Anzug wortlos verständigt. Der Mann postiert sich vor dem Ausgang. Auf meinen fragenden Blick erwidert Ashton: „Ryan ist ein Freund.“
Ich schmunzle. „Wie schön, wenn man ein solch enges Verhältnis zu seinem Bodyguard hat.“
Seine Augen blitzen auf. „Er war bereits ein Freund, bevor er den Personenschutz übernommen hat.“
Mein Blick schweift zu dem gut gebauten blonden Kerl, von dem ich nur die Kehrseite sehe. Trotzdem erkenne ich ihn wieder. Er war auch bei der Ausstellungseröffnung. Er ist gut. Meinem geschulten Auge war kaum aufgefallen, dass er in Jacobs Nähe war. Offenbar hat der Lord mit diesem Ryan ein enges Vertrauensverhältnis. Ich nehme dieses Puzzlestück an Information auf und verstaue es in meiner inneren Jacob-Ashton-Akte. Einen Moment schweigen wir. Nur die gedämpften Lautsprecheransagen über die laufenden Pferderennen und das dezente Surren einer Lüftung hängen im Raum. Jacob mustert mich und scheint auf etwas zu warten.
Mit einem Mal wird mir bewusst: Ich bin allein mit Jacob Ashton. Dem begehrtesten Junggesellen Englands. Aus dem Hochadel. Milliardär. Unsere Zielperson. Den Anflug innerer Unruhe verbergend, schaue ich mich erstmals um. Das sind also die sagenumwobenen Privatboxen von Ascot. Was mir den Atem raubt, ist nicht der runde Tisch, der mit eleganter Tischwäsche und Geschirr für zwei gedeckt ist. Auch nicht der bereitstehende Weinkühler mit einer edel aussehenden Flasche darin. Es ist das Gemälde, das auf der Längsseite der Box hängt. Genauer gesagt, ein Gemälde von Colin Hamilton. Vor ebendiesem Bild habe ich Ashton bei der Ausstellungseröffnung kennengelernt. Wie aufmerksam von ihm. Es ist ein großartiges Bild. Es erinnert mich an die fotorealistischen Bilder von Gerhard Richter. Sogar das Motiv findet sich bei Richter in ähnlicher Weise. Auf ihm ist ein liegendes Mädchen in einem roten Kleid abgebildet. Der Blick ihrer grünen Augen schaut mich an und wirkt dabei durchdringend und verträumt. Die Intensität des Motivs raubt mir erneut den Atem.
Hat er nicht zuvor von diesem Bild gesprochen? Ich fahre zu ihm herum. Seine dunklen Augen halten meine gefangen. Woher wusste er, dass ich heute ein rotes Kleid tragen würde? Oder ist es Zufall? Mir wird mulmig. Ich weiß fast nichts über diesen Mann. Wir haben kaum drei Sätze gewechselt. Was hat er vor? Sein aufmerksamer Blick ist so intensiv, dass ich mich wieder dem Bild zuwende und es auf mich wirken lasse. Ich liebe dieses Motiv. Wurde es bei der Vernissage verkauft? Als hätte er meine stille Frage gehört, steht Jacob mit einem Mal so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem im Nacken spüre.
„Das Bild habe ich mir persönlich gesichert. Das Mädchen hat mich an Sie erinnert. Es gefällt Ihnen, nicht wahr?“
Ich räuspere mich und trete instinktiv einen Schritt zur Seite. Ich sollte aufpassen. Darf den Fokus nicht verlieren, auch wenn er ausnehmend gut duftet. Vermutlich ist das ein eigens für ihn kreierter Duft. Kostbar wie das Bild vor uns.
„Ja, es ist ein wunderbares Werk. Man muss viel von Menschen und ihren Emotionen verstehen, um so malen zu können.“
Ashton nickt und betrachtet das Bild, als lasse er sich meine Worte durch den Kopf gehen. Mit einem Mal kommt mir das Unbehagen von zuvor wie Paranoia vor. Wir beide lieben Kunst und haben diesem Thema unser Leben gewidmet. Er ist schlicht aufmerksam. Und er hat nicht unrecht. Die Haarfarbe des Mädchens stimmt zwar nicht genau mit meiner überein, doch die helle Haut und der Farbton der Augen im Kontrast zur Farbe der Kleidung sind fast mit meiner heutigen Erscheinung identisch. Auch bei der Mundpartie entdecke ich eine Ähnlichkeit. Das rothaarige Mädchen erinnert mich an ein anderes Gemälde und ich nutze die Gelegenheit. „Finden Sie nicht, dass das Motiv an die kleine Irenevon Renoir erinnert?“
Er schmunzelt. „Genau. Colin Hamilton hat mir verraten, dass Renoir ihn inspiriert hat. Er wollte das Bild ursprünglich Irenenennen, hat es sich aber anders überlegt.“ Wir schweigen einen Moment, in dem sich mein Verstand überschlägt. Was für eine Laune des Schicksals, dass ich Lord Ashton ausgerechnet vor einem Bild kennenlerne, dessen Motiv an Renoir erinnert.
Jacob deutet auf den Tisch. „Ich hoffe, ihr Freund hat nichts dagegen?“
Irritiert schaue ich ihn an. „Mein Freund? Oh, Sie meinen Nick. Er ist mein Kompagnon. Mehr nicht. Ich denke, Sie kennen sich von früher?“
„Eben.“ Seine kryptische Antwort hängt im Raum, und ich lege fragend den Kopf schief. Einen langen Atemzug später fügt er hinzu: „Bitte nehmen Sie Platz.“ Er zieht einen der Stühle zurück, und ich setze mich. Als er die Stuhllehne loslässt, streifen seine Fingerspitzen kurz meinen Nacken.
Ich schnappe nach Luft. Mit unbeteiligter Miene nimmt er mir gegenüber Platz, sodass ich verunsichert bin, mir die Berührung nur eingebildet zu haben.
„Champagner?“ Er hält die Flasche hoch, die er aus dem Kühler genommen hat, und ich nicke. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass ein Lakai erscheint. Jacob Ashton scheint die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
„Wie sind Sie zur Kunst gekommen?“, fragt er, als er die Flasche zurückstellt.
Wir prosten uns zu. Himmel, das Zeug ist tausendmal besser als das Gesöff, das ich am Freitag für das Dinner bei meiner Mutter gekauft hatte. Ich überlege kurz, wie ich die Frage beantworte, ohne zu viel zu offenbaren. „Ich kann es nicht genau sagen. Mein Vater ist sehr kunstbegeistert. Seit ich denken kann, habe ich Ausstellungen und Galerien besucht. Da hatte ich anderen Kindern etwas voraus. Bilder haben seit meiner Kindheit eine Faszination auf mich ausgeübt. Sie scheinen etwas in meinem Inneren anzurühren. Zumindest die Guten. Wie ist es bei Ihnen?“
„Ähnlich. Wobei es geholfen hat, dass bereits meine Eltern Kunst gesammelt haben und die Wände zu Hause mit eindrucksvollen Gemälden vollhängen.“
„Ich gestehe, ich bin neidisch. In unserer Wohnung hingen nur Drucke und die ein oder andere Kopie. Ich habe immerhin eine stattliche Postkartensammlung mit Kunstmotiven.“ Das muss reichen, um die fatale Wahrheit nett zu umschreiben.
Er lächelt, während er mir aufmerksam zuhört. Die Geste, wie er dabei den Daumen über die Lippen streifen lässt, war mir bereits aufgefallen.
„Malen Sie selbst?“, fragt er.
Ich nehme einen Schluck, bevor ich ihm antworte. „Die Malerei ist nichts für mich. Früher habe ich gezeichnet. Ich hatte einen guten Lehrer. Seit Abschluss des Studiums finde ich wenig Zeit dazu. Sie?“ Obwohl es von außen wie belangloser Small Talk scheinen mag, habe ich das Gefühl, es handle sich um mehr. Wie ein Tanz drehen wir uns mit den gegenseitigen Fragen umeinander, den anderen nicht aus den Augen lassend, jedes Häppchen an Information gierig aufsaugend.
„Ich male. Eine Leidenschaft von mir. Aber ich bin nur mäßig begabt. Es entspannt mich, wenn ich die Zeit dafür finde.“ Er macht mit der Hand eine abwertende Geste. So als sei dieses Thema nicht der Rede wert. Also schlucke ich meine Neugier mit dem Champagner hinunter. „Was haben Sie studiert?“, fragt er.
„Kunstgeschichte. Hier in London.“
Er nickt, als überrasche ihn diese Auskunft nicht. „Warum arbeiten Sie nicht als Kuratorin in einem Museum?“
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht habe ich zu gern Krimis gesehen.“
Er lächelt. „Aber Sie haben dem Polizeidienst den Rücken gekehrt. Genau wie Nick.“
Ich hole tief Luft. Er ist verdammt gut informiert. Jacob hat sich entspannt zurückgelehnt, und sein intensiver Blick lässt mir keine andere Wahl, als ins Detail zu gehen. „Mein Spezialgebiet war Versicherungsbetrug, Kunstfälschung und Kunstraub. Nick wurde mir nach dem Abschluss der Polizeischule als Partner zur Seite gestellt … als Mann fürs Grobe.“
„Ja, Nick ist weniger der feinfühlige Typ. Das war er noch nie.“
Ich lege fragend den Kopf schief. Vielleicht werde ich endlich erfahren, was damals zwischen den beiden vorgefallen ist? „Sie zwei waren eng befreundet? Was ist geschehen?“
Ein feines Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab, und er hebt die Hand zu der nun schon vertraut wirkenden Geste an sein Kinn. „Ehrlich gesagt, ist mir sein ewiges Understatement-Getue auf den Geist gegangen. Er meidet alles, was ihm einen intellektuellen Anstrich geben könnte – dabei ist er hochintelligent und gebildet. Kein Wunder, dass er Polizist geworden ist, obwohl er die Londoner Börse im Sturm hätte erobern können. Er wollte der ganzen Welt beweisen, dass er trotz seiner Herkunft ein tougher Kerl ist. Geht er immer noch in diese Fight-Clubs?“ Jacob schenkt nach.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, mein Glas geleert zu haben.
Ich nage an meiner Unterlippe. Mir ist nicht wohl dabei, mit Jacob über Nick zu sprechen. Nick liebt die Handarbeit, und damit meine ich den Umgang mit jeder Art von Waffen bis hin zu seinen Fäusten. Wenn ihm das Adrenalin im Job nicht reicht, nimmt er tatsächlich auch heute noch an illegalen Untergrundkämpfen teil. Die Blessuren trägt er wie Trophäen. Ein verrückter Kerl. Aber liebenswert!
„Jeder, wie er mag“, erwidere ich und hoffe, das Thema damit abzuhaken. Wenn das so weitergeht, erfährt Jacob bei diesem Gespräch mehr über mich als ich über ihn. Und das ist nicht Sinn dieses Treffens. Ich setze gerade zu einer Frage an, als Jacob mir zuvorkommt.
„Wie hat er Sie dazu überreden können, Scotland Yard zu verlassen und ausgerechnet mit ihm Privatermittlerin zu werden?“
Ich lächle und erzähle ihm davon, wie Nick nach gut fünf Jahren Partnerschaft bei der Polizei vorschlug, dem Staatsdienst den Rücken zu kehren und sich mit einer auf Betrugsfälle in der Kunst spezialisierten Ermittlungsagentur selbstständig zu machen. Mit meinen Kenntnissen und seiner Schießkunst wären wir ein unschlagbares Team. Anfangs habe ich die Idee belächelt. Doch Nicks Art, von nichts anderem mehr zu sprechen, hatte mich bald überzeugt. Was ich Jacob verschweige, ist, dass es ein weiteres Jahr gedauert hat, bis ich genügend Geld zusammengespart hatte, um den Traum wahr werden zu lassen: Montgomery & Heart. Unsere eigene Agentur! Nick hatte es einfacher: Er konnte aus seinem Treuhandfonds die erforderliche Summe auslösen. Und ich erzähle ihm auch nicht, dass das erste Jahr hart war. So hart, dass ich kurz davor war, alles hinzuschmeißen. Schließlich sind eine Menge hungriger Mäuler von mir abhängig. Finanzielle Hilfe von Nick habe ich abgelehnt. Ich habe schließlich meinen Stolz.
„Verraten Sie mir, warum Sie gegen mich ermitteln?“ Die Frage kommt so unerwartet, dass das Glas in meiner Hand zittert, was ihm nicht entgeht.
„Wenn Sie mir verraten, woher Sie das wissen?“ Herausfordernd sehe ich ihn über den Rand des Glases an.
Er lacht leise, ohne diesen intensiven Blick von mir zu lassen. „Ich habe meine Quellen“, murmelt er.
„Dann werden Ihnen die Quellen sicherlich offenbart haben, was ich suche.“
Sein Blick nimmt einen Tick an Intensität zu, sofern das überhaupt möglich ist. Er fixiert mich weiterhin, und ich starre ihm wie gebannt in die Augen. Er leugnet nicht. Heißt das, er hat das Bild?Das Herz trommelt in meiner Brust, sodass die Oberfläche des Champagners in meinem Glas zittert. Die Spannung im Raum ist greifbar. Keiner bewegt sich. Keiner spricht. Ein Duell der Blicke. Erleichtert nehme ich wahr, wie ein Kellner mit dem Servierwagen den Raum betritt. Ich sehe Jacob an, dass ihm die Störung ungelegen kommt, doch bis auf das Flackern im Blick verbirgt er es. Der Kellner arrangiert Papayasalat und Rotbarbenfilets auf den Tellern. Dazu stellt er Schälchen mit Zitronenscheiben, Granatapfelkernen und ein kleines Kännchen mit Soße. Mein Magen knurrt lautstark, und Jacob entschlüpft wieder das leise Lachen, das ich bislang das Sympathischste an ihm finde. Mit einem Nicken, das mir guten Appetit wünschen soll, nimmt er das Besteck auf. Ich versinke einen Moment in dem köstlichen Geschmack auf meiner Zunge und schließe die Augen. Das ist himmlisch! Als ich sie wieder öffne, starrt mich Jacob an, als wäre ich eine Erscheinung. Sein Blick klebt auf meinem Mund und wandert langsam meinen Hals hinunter, bis er auf meinem respektablenDekolleté hängen bleibt. Bingo! Nicks Einschätzung, dass in diesem Fall weniger mehr ist, war wohl richtig. Ein Mann stellt sich lieber vor, was sich unter dem Stoff befindet, anstatt dass ihm die Mädels entgegenspringen.Ich nutze den Moment der Schwäche.
„Und, haben Sie es?“
Seine Augen schnappen hoch. Die Verwandlung, die sich nach einem kurzen Moment der Irritation in seinem Gesicht vollzieht, ist mehr als faszinierend. Unzählige Lachfalten bilden sich um Mund und Augen. Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht herzhaft. Habe ich gesagt, das leise Lachen sei sympathisch? Ich korrigiere mich: Laut ist besser. Mit einem Mal scheint die aristokratische Distanziertheit von ihm abgefallen, und durch einen kleinen Spalt darf ich den echten Jacob Ashton erleben. Ob er so ist, wenn er allein oder mit engen Freunden zusammen ist? Ungefiltert. Männlich. Der Laut ist ansteckend, und ich spüre, wie sich meine Mundwinkel automatisch heben. Ein wunderbares Gefühl, gemeinsam zu lachen.
Er tupft sich mit der Serviette die Lippen und funkelt mich amüsiert an. Dann neigt er sich vor. „Finden Sie es heraus, Olivia. Ich gehöre ganz Ihnen.“